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Spiele, die ich vermisse #74: Day of the Tentacle

In meiner Redakteurs-Pension haben sich natürlich auch die Motivationen für diesen Blog radikal verändert. Immer öfter kommt der Gedankenanstoß, der mich an ein altes Spiel erinnert, nicht von einem aktuellen Titel oder einem aktuellen Ereignis aus der Industrie, sondern von anderen alltäglichen Ereignissen. Warum ich das erwähne? Weil es diesmal anders und fast wie in alten Zeiten ist. Für Shock2 habe ich diese Woche nämlich Broken Age (oder besser die erste Hälfte davon) getestet – jenes Adventure, das die Kickstarterwelle so richtig begann und dank des Namens Tim Schafer und der Sehnsucht nach den LucasArts-Adventures Hoffnungen etliche Crowdfunding-Rekorde pulverisierte  (die aber mittlerweile teilweise auch schon wieder Geschichte sind). Ob mir das Spiel gefallen hat, ist hier aber nicht Thema (das könnt ihr im Review nachlesen), sondern die Tatsache, dass es mich dazu inspirierte, eines jener Adventures zu vermissen, durch die Tim Schafer überhaupt erst berühmt wurde. Sein Name? Day of the Tentacle.

Wir schreiben das Jahr 1993, als LucasArts nach einer Reihe höchst erfolgreicher Adventures (nicht zuletzt Monkey Island und sein erstes Sequel sowie Indiana Jones and the Fate of Atlantis) mit Day of the Tentacle die Fortsetzung jenes Spiels veröffentlichte, mit dem der Aufstieg der Spieleschmiede zur Größe im Genre begonnen hatte (Labyrinth klammere ich hier mal als „heute eher unbekannt“ aus): Maniac Mansion hatte 1987 die Spieler in das Haus des verrückten Professors Fred Edison und seiner Familie gebracht, um gemeinsam mit Teenager Dave und zwei Freunden (die man zu Beginn aus einem Pool verschiedener Charaktere mit unterschiedlichen Skills auswählen konnte) die entführte Cheerleaderin Sandy zu retten. Unter der Führung von Tim Schafer und Dave Grossman (die beide zuvor mit Ron Gilbert an den Monkey Islands beteiligt waren) und mit ein wenig Hilfe der Ur-Autoren (Ron Gilbert sollte knapp darauf die Firma verlassen) entstand das Sequel, das etliche  Konzepte (und den Schauplatz) des Vorgängers übernahm, teilweise auf die Spitze trieb und mit neuen, verrückten Ideen zu einem Genreklassiker aufsteigen sollte.

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Diesmal ist es allerdings kein entführtes Mädchen, das uns zurück in die Maniac Mansion bringt, sondern ein Unfall mit Chemieabfällen: Purpurtentakel, einer der beiden Gehilfen von Dr. Fred, trinkt irrtümlich verunreinigtes Abwasser, das aus dem Haus strömt, entwickelt daraufhin spontan Stummelarme sowie gesteigerte Intelligenz und plant, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Dem deutlich liebenswerteren und freundlicheren Grüntentakel gelingt es allerdings, einen Hilferuf auszusenden, der den Nerd Bernard (eine Figur aus dem Urspiel) erreicht. Gemeinsam mit seinen Freunden, der durchgeknallten Medizinstudentin Laverne und dem Roadie Hoagie, macht er sich auf, seinen alten Tentakelfreund zu retten – nicht ahnend, was sich daraus für ein Abenteuer ergibt.

Denn der größte Twist des Spiels offenbart sich schon nach wenigen Minuten: Dr. Fred hat eine Zeitmaschine erdacht (der englische Begriff „Chron-o-John“ offenbart schon, dass es sich dabei um eine Konstruktion auf Basis einer Toilette handelt) und will damit das Trio einen Tag in der Zeit zurückschicken, um die Verunreinigung des Abwassers und damit die Mutation zu verhindern. Einen Strich durch die Rechnung macht allerdings der günstig erworbene Diamant im Zentrum der Zeitmaschine, der während der Zeitreise zerbricht und unser Trio quer durch die Weltgeschichte  verstreut: Bernard landet genau da, wo die Reise bekommen hat, Hoagie knapp 200 Jahre in der Vergangenheit und Laverne in einer Zukunft, in der die Tentakel die Weltherschaft übernommen haben und Menschen nur noch Haustiere sind. Und nur wenn alle drei zusammenarbeiten, können sie den Weg zurück wieder finden und das flüchtige Purpurtentakel aufhalten …

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Wie man aus diesem kurzen Abriss bereits rauslesen kann, verzichteten Schafer und Grossman (übrigens entgegen erster Pläne) auf das Konzept, dass man auch im Sequel Charaktere mit unterschiedlichen Charakteren und Fähigkeiten aus einem Pool auswählen kann (was beim Vorgänger den Wiederspielenswert stark erhöht hatte, aber natürlich die Komplexität des Spiels stark erhöht hätte). Dieser Schritt erlaubte, die Entwicklung zu vereinfachen und das Spiel komplett auf die Charaktere zuzuschneiden, was wiederum dem Humor zugutekam. Besonders Hoagie in der Gründerzeit (und in Interaktion mit Thomas Jefferson, George Washington und Co., die ausgerechnet in diesem Haus die Verfassung ausarbeiten) und Laverne in einer rechtelosen Zukunft sind für etliche Lacher gut – ganz zu schweigen davon, dass Bernard mit seiner üblichen unbeholfenen Art für (Slapstick-)Katastrophen seiner ganz eigenen Art sorgt.

Neben den drei Charakteren sind die drei Zeitzonen ein wichtiges Spielelement (zumindest in einem Großteil des Spiels). Eigentlich hat jede Figur ihre eigene, klar gestellte Aufgabe (die Zeitkapsel mit Energie versorgen für Hoagie und Laverne, einen Diamanten auftreiben für Bernard), doch nur wenn die drei zusammenarbeiten, können sie die Aufgabe lösen. Und das funktioniert auf zwei Arten: Erstens kann man Dinge in der Vergangenheit tun, die Auswirkungen auf die Zukunft haben. Nur ein kleines Beispiel: Fällt man einen Baum in der Vergangenheit, wird er in späteren Perioden nicht mehr dastehen. Hier muss man tatsächlich ein wenig um die Ecke denken und überlegen, wie man die Vergangenheit zum Vorteil der zukünftigen Charaktere verändern kann. Die zweite Möglichkeit ist eine deutlich direktere Interaktion – mithilfe des Chron-o-Johns kann man Gegenstände in eine andere Zeit „spülen“. Dadurch können sie auch rückwärts durch die Zeit reisen und altern dabei auch nicht (was ein wichtiger Unterschied ist – lässt man einen Gegenstand in der Vergangenheit liegen, wird er sich in der Gegenwart nämlich vermutlich sehr wohl verändert haben). Auf diesen Konzepten – gemeinsam mit den genreüblichen Konventionen von „Items kombinieren“ bis „Gespräche führen“ sowie dem abgefahrenen Humor, für den Tim Schafer später bekannt werden sollte, entstand der leckere Mix namens „Day of the Tentacle“.

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Der technische Hintergrund des Spiels basierte einmal mehr auf der ständig weiterentwickelten SCUMM-Engine, die hier zum zweiten (und letzten) Mal tatsächlich zu dem Zweck benutzt wurde, für den das Akronym eigentlich steht (SCUMM steht ja, wie vermutlich fast jeder weiß, der sich ein wenig mit der LucasArts-Geschichte beschäftigt hat, für „SCripting Utility for Maniac Mansion“). Und „letztes Mal“ ist auch ein gutes Stichwort, denn Day of the Tentacle war das letzte LucasArts-Spiel, das mit dem klassischen Adventure-Interface ausgeliefert wurde – in den oberen zwei Dritteln des Bildschirms die Action und die Spielfiguren, unten rechts die Verben, mit denen man eine Aktion auswählte, und unten links das grafische Inventar sowie die Buttons, mit denen man Charakter wechseln konnte. Der direkte Vergleich mit Maniac Mansion (und den konnte jeder Spieler jederzeit haben, denn klickte man auf Eds Computer, konnte man den Klassiker zocken) zeigte dabei, wie weit sich das Interface in der Zeit entwickelt hatte – nämlich nicht nur grafisch, sondern auch in Sachen Spielkomfort. Aus den vielen, vielen Verben der Urfassung (darunter das eher berüchtigte „Was ist“-Verb, das man anklicken musste, um mit dem Mauszeiger auf Hotspot-Jagd gehen zu können) waren nur noch relativ schlanke neun Schlagworte geworden und die rechte Maustaste führte Default-Aktionen aus. Gut, das unterscheidet das Spiel jetzt nicht von seinen unmittelbaren Vorgängern (im Vergleich zu Fate of Atlantis und Monkey Island 2 ist das Interface bis auf ein wenig Kosmetik unverändert), aber gerade bei diesem Spiel war es durchaus interessant, die erste und die letzte Version der Steuerungsmethode zu vergleichen.

Apropos Vergleich: Liest man sich die damaligen Reviews zu dem Spiel durch, wurde auch hier viel mit dem Vorgänger verglichen – und diese Vergleiche waren durchaus positiv. Vor allem die Tatsache, dass es keine Möglichkeit gab, das Spiel zu verlieren, wurde stark hervorgehoben (in Maniac Mansion war es durchaus möglich, einzelne oder alle Figuren ins Gras beißen zu lassen). Hoch gelobt wurde auch der Humor des Spiels sowie die Grafik. Kritik hab es vor allem für zwei Punkte: Rätsel, die nicht immer logisch waren, sondern vor allem durch Ausprobieren gelöst werden konnten, und die Tatsache, dass das Spiel sehr kurz war. Trotz der im Großen und Ganzen sehr guten Wertungen teilt Day of the Tentacle ein Schicksal mit vielen anderen Kulttiteln – der große kommerzielle Wurf war das Spiel nicht, wie Tim Schafer selbst erklärte und die Verkäufe zum Release mit knapp 80.000 Stück bezifferte. Diese verteilen sich übrigens auf eine Disketten- und eine CD-ROM-Fassung, denn DotT war das erste LucasArts-Adventure (und generell eines der ersten Spiele), bei dem zum Launch beide Fassungen im Handel standen. Die Fassung auf CD bot im Gegensatz zur Disk-Version eine vollständige Sprachausgabe – eine der Stimmen war übrigens Tim Schafers Schwester Ginny – sie sprach Dr. Freds Frau Edna.

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Für mich war Day of the Tentacle das erste LucasArts-Adventure, bei dem ich den Release bewusst wahrnahm – nach beiden Monkey Islands und Indiana Jones FoA war ich zum Fan des Softwarehauses geworden und ich beobachtete die Veröffentlichungen des Studios genau. Das heißt allerdings nicht, dass ich mir das Spiel sofort zum Release kaufte – diese Ehre sollte erst Full Throttle zukommen. Aber ich wusste, dass dieses Spiel erschien und damals schon, dass ich dieses Spiel eines Tages in den Händen halten wollte. Mangels Mitteln war Day of the Tentacle deshalb auch eines jener Spiele (wie z.B. Larry 6), bei denen ich mich mit meiner Adventure-Spielgruppe zusammentat (sprich: das Spiel machte bei allen Genre-Fans in meiner Klasse nach und nach die Runde). Dabei kam uns wohl zu Gute, dass das Spiel nicht besonders lang ist – so zirkulierte DotT relativ rasch durch die Schülerreihen, was auch dafür sorgte, dass man sich ganz gut über das Spiel unterhalten konnte (bei anderen Titeln kam es durchaus vor, dass der eine schon vergessen hatte, welche Herausforderungen das Spiel bot, während die anderen noch nicht angefangen hatten). Und so schmunzelten wir gemeinsam über Verfassungszusätze der Marke „Jeder Haushalt in Amerika sollte einen Staubsauger im Keller haben“, Washingtons Kenntnisse im Fällen von Kirschbäumen und über die Frage, was der Hamster in der Mikrowelle verloren hat.

Ich kann heute nicht mehr sagen, wie lange ich gebraucht habe, um den Abspann zu sehen – eine Weile wird es schon gedauert haben, denn damals passierte es mir eigentlich nie, dass ich durch ein Adventure einfach in einem Tag durchspazieren konnte –, aber was ich sicher weiß, ist, dass DotT bald in den Kanon meiner „regelmäßigen“ Adventures aufgenommen wurde, also jene Spiele, die ich regelmäßig (und damit natürlich zunehmend auswendig) durchspielte. Der Vorteil des Maniac Mansion-Sequels (dessen Vorgänger ich auch um diese Zeit herum das erste Mal durchspielte) war dabei ausgerechnet sein größter Kritikpunkt: Ich konnte ihn schneller durchspielen als andere. Während ein Monkey Island-Durchlauf (egal welcher Teil) mit einem guten Plan knapp drei Stunden dauert und vor allem Indiana Jones and the Fate of Atlantis mich einen ganzen Nachmittag beschäftigen konnte, war bei der Tentakelsaga in knapp zwei Stunden das Ende zu sehen – praktisch, um nicht von den Eltern mal wieder zu hören, dass man zu viel Zeit vor dem Computer verbrachte.

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Da ich diese Marathons lange Jahre durchzog konnte ich auch beobachten, wie sich der Humor für mich veränderte. Mit knapp 13 Jahren war eine ganze Portion amerikanische Geschichte und Popkultur an mir vorbei gezogen und manche Dinge akzeptierte ich einfach. Woher hätte ich denn wissen sollen, was die IRS ist? Auch Puzzles, wie jene rund um Washingtons schlechte Zähne, waren für mich vermutlich schwieriger zu knacken als für Kinder der USA, die mit Anekdoten rund um die Gründerväter aufwachsen. Bis heute entdecke ich immer wieder neue Dinge, die ich bislang nicht verstanden hatte. Und das finde ich schön – es gibt für mich auch nach ein paar Jahren immer wieder Neues zu entdecken (und Altes, das man schon wieder vergessen hat, wieder zu entdecken).

Und das führt mich auch schon zu den Gründen, dieses Spiel zu vermissen: Nie zuvor (und schon gar nicht mehr danach) hat ein Zeitreiseabenteuer so viel Spaß gemacht, war spielerisch so gut durchdacht und hat so viele abgedrehte Ideen präsentiert. Einige Pointen und Lösungsansätze haben sich tief in mein Spielgedächtnis eingebrannt und ich würde gerne einige von ihnen aufzählen, aber ich habe mich dann doch entschlossen, mich zurückzuhalten – vielleicht will es ja irgendjemand von euch noch einmal spielen. Das ist aber auch einer der Gründe, warum ich das Spiel heute vermisse – DotT war leider weder eines der Spiele, die bei den Steam-Releases der LucasArts-Klassiker dabei waren, noch hat es eine „Special Edition“ bekommen (Gerüchte sagen, dass dieses in Entwicklung war, knapp bevor Disney LucasArts schloss, und dann in eine Schublade wanderte). Damit muss man Day of the Tentacle, wenn man es heute spielen will, in alter Form gekauft haben und die alten Daten (besonders lustig, wenn man wie ich die Diskettenfassung daheim hat) auf den Rechner transferieren (wobei das bei mir ein wenig zum Treppenwitz wurde, denn ich habe meine Disketten schon vor langer Zeit gesichert – auf Streamer-Bändern) und mit Software wie der SCUMM-VM zum Laufen bringen. Das hat dafür gesorgt, dass ich erst vor etwa einem Jahr nach fast einem Jahrzehnt Pause wieder Hoagie, Laverne und natürlich Bernard in ihr Abenteuer geführt habe, als ich meine alten Bänder wieder ausgegraben hatte. Hat es sich gelohnt? Oh ja, durchaus – der Humor funktioniert nämlich wie eh und je. Schade nur, dass es wohl nie einen dritten Teil geben wird – im verrückten Haus wäre Platz für noch viele, viele Abenteuer …

Florian Scherz

Bereits früh entwickelte Florian zwei große Leidenschaften: Videospiele und Theater. Ersteres brachte ihn zu einem Informatikstudium und zu Jobs bei consol.MEDIA und Cliffhanger Productions; zweiteres lässt ihn heute (unter anderem) als Schauspieler, Regisseur, Komponist und Lichtdesigner arbeiten. Wenn er gerade keine Musicals inszeniert, spielt oder schreibt, vermisst er auf Shock2 Videospiele von anno dazumal in seiner Blog-Reihe "Spiele, die ich vermisse".

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