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Spiele, die ich vermisse #59: Lemmings

Es gibt Spiele, bei denen mir spontan aufgrund von Ereignissen der Woche einfällt, dass ich sie vermissen sollte, auch wenn ich schon länger nicht mehr über sie nachgedacht habe. Und dann gibt es jene Titel, die ich ewig mit mir rumschleppe; von denen ich weiß, dass ich sie vermisse, aber auf den perfekten Zeitpunkt warte. Für eines dieser Spiele ist heute dieser Zeitpunkt gekommen. Warum? Ganz einfach: Weil dies die Woche von GTA ist. Und nein, das erinnert mich nicht an tolle Abenteuer in Los Santos, Liberty City oder sonst wo – ganz einfach deshalb, weil mich persönlich GTA überhaupt nicht anspricht. Gangslang, durch die Stadt cruisen, Gewalt um der Gewalt willen … das ist nicht meine Videospielwelt. Deshalb erinnert mich dieser Release an etwas ganz anderes: An eine Zeit, als Rockstar North noch DMA Design war und sie ein Spiel ablieferten, das für mich ihr bestes Spiel aller Zeiten wurde (sorry, GTA-Fans): Lemmings.

Ich glaube kaum, dass es jemanden gibt, der Lemmings nicht kennt, aber lasst mich kurz auf das Spielprinzip eingehen (ich orientiere mich hier streng am Original – Sequels und vor allem Remakes mit Abweichungen lasse ich großräumig aus): In verschiedenen Levels (dreißig für jeden der vier Schwierigkeitsgrade), die ihr aus der Seitenansicht seht, müsst ihr eine Schar kleiner Männchen (die namensgebenden Lemmings, die aber nicht mit Lemmingen zu verwechseln sind) vom Eingang, an dem sie aus einer Klappe fallen, zum Ausgang bringen. Das Problem dabei? Diese kleinen Wesen sind mit recht wenig Intelligenz ausgestattet und laufen stur geradeaus (und dabei oft – das haben sie mit dem Lemming-Mythos gemein – in ihr Verderben), bis sie auf ein Hindernis treffen, das sie zum Umkehren zwingt. Um zum Ausgang zu gelangen brauchen sie also definitiv Hilfe – und zwar eure.

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Acht Skills gibt es, die ihr einzelnen Lemmings zuweisen könnt – aber von jedem nur eine begrenzte, Level-abhängige Anzahl (und manchmal stehen gewisse Fähigkeiten gar nicht zur Verfügung). Damit könnt ihr einen Lemmings zum Kletterer machen, der senkrechte Flächen erklimmen kann, oder ihn mit einem Fallschirm ausstatten, der ihn vor dem Tod durch einen zu tiefen Sturz bewahrt. Diese beiden Skills sind im Gegensatz zu allen anderen permanent – diese Lemmings werden also immer Flächen hochklettern und/oder den Fallschirm nutzen. Wobei, permanent ist auch Fähigkeit Nummer drei: Das Opfer des Explosionsskills bekommt einen kleinen Countdown von fünf herab, und explodiert, sobald dieser null erreicht. Dabei beschädigt er die Umgebung, nicht aber seine Mit-Lemmings, und kann so neue Durchgänge erschaffen. Das Problem dabei ist allerdings, richtig zu „zielen“ – solange der Countdown läuft, marschiert er nämlich stur weiter. Abhilfe verschafft da manchmal der Blocker, Skill Nummer vier. Dieser bringt ein Männchen dazu, stehen zu bleiben und seine Mit-Lemmings zur Umkehr zu zwingen – praktisch, wenn man den Weg zuerst mit einem kleinen Trupp freiräumen will und die anderen relativ sicher parken will. Das Problem dabei? Will man den Weg wieder freigeben, muss man den Blocker entweder sprengen oder den Boden unter ihm entfernen, woraufhin er wieder zum „normalen“ Lemming wird. Abgerundet werden die Skills durch den Builder, der eine Rampe im 45 Grad-Winkel baut – allerdings nur 12 Steine lang, bis er an ein Hindernis stößt oder er ein anderes Kommando bekommt –, und drei verschiedene Arten von Grab-Aktionen, die entweder gerade aus (Basher), Diagonal nach unten (Miner) oder senkrecht nach unten (Digger) einen Weg bahnen.

Aus diesen eigentlich recht einfachen Zutaten strickte DMA Design eines der besten Puzzle-Spiele der Computergeschichte. Die einzelnen Skills sind schnell begriffen (vor allem gibt es zu jedem ein eigenes Level, das als Tutorial dient und diese Fähigkeit intuitiv, ohne viele Erklärungen, vorstellt, aber der Teufel steckt im Detail. Die Level werden rasch komplexer, die Aufgabenstellungen schwieriger und die Ziele – pro Level muss ein gewisser Prozentsatz an Lemmings das Ziel erreichen – schwerer zu erreichen. Besonders eindeutig wird das in jenen Levels, die sich später wiederholen – ist ein Abschnitt zum Beispiel beim ersten Mal einfach zu überwinden, wird er mit einer höheren Fallrate (die Lemmings fallen schneller aus der Luke – ein Wert, den man zwar hochschrauben kann, aber nie unter den Startwert senken kann) und mehr Lemmings, die man retten muss (vor allem die gefürchteten 100 Prozent, die meist bedeuten, dass man keinen Blocker einsetzen kann) zum Teil abartig schwer. Da drückt man dann öfter als einem lieb ist auf den Mass-Nuke-Button, der alle Lemmings zu Bombern macht und meist zu einem Neustart des Levels führt (außer, man ist böse, hat schon vorher die nötigen Lemmings gerettet und lässt den Rest nur aus Spaß an der Freude explodieren).

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Wie viele gute Ideen war Lemmings die Kombination aus einem Zufall und einem Geniestreich. Die kleinen Figürchen entstanden eigentlich als Grafikdemo für Walker, wo sie als Kanonenfutter enden sollten. Die Herausforderung war dabei, eine sinnvolle Geh-Animation in gerade mal acht mal acht Pixel zu quetschen. Mike Daily designte die Laufanimation – und bald wurde klar: Hier versteckt sich ein Spiel. Aus Blood Money – genauer gesagt der Salamander-Waffe – übernahm man die Möglichkeiten der Männchen, über das Terrain zu spazieren. Mit dem Gamplay an Ort und Stelle designten die Entwickler via Deluxe Paint die Level, was zu sehr unterschiedlichen Spielarten führte. Zusätzlich gab es noch verschiedene Stile von Levels – darunter ein Höllenset oder Höhlensysteme, aber auch metallene Designs, die nicht durchgraben werden konnten. Manche Abschnitte verbargen sogar Insider-Gags – so basieren einige Levels auf Psygnosis- und Reflections Interactive-IPs, wie zum Beispiel Shadow of the Beast (Psygnosis war der Publisher und auch im Endeffekt Rechteinhaber – deshalb liegt die Marke heute bei Sony).

Dem Erfolg auf Amiga folgten zahlreiche Ports auf alle wichtigen Systeme – von Heimrechnern wie Atari ST, PC und ZX Spectrum auch auf die Konsolen, von SNES bis NES, Lynx, CD-i, sogar auf den Gameboy (der mit heftigen technischen Limitationen und Steuerungsproblemen zu kämpfen hatte). Umsetzungen gibt es sogar bis heute – zuletzt für PSP, PS2 (mit EyeToy-Unterstützung) und PlayStation 3, zum Teil mit einigen Erweiterungen. Apropos Erweiterungen, die sollen auch noch kurz erwähnt werden: Oh No! More Lemmings war eine Datendisk mit 100 weiteren Levels (die in manchen Versionen aber auch inkludiert war oder Stand-Alone verkauft wurde) und natürlich die Xmas Lemmings mit ihrem Weihachtsthema.

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Das führt mich auch schon zu meiner eigenen Geschichte mit Lemmings. Wir schrieben das Jahr 1991: Meine Schwester war kurz zuvor in eine andere Stadt gezogen und ich mit meinen zehneinhalb Jahren nutzte das als Gelegenheit, eine Sommerwoche fernab des Elternhauses bei ihr zu verbringen. Das hatte einen weiteren Vorteil: Mein Cousin und meine Cousine (die ich schon öfter erwähnt habe – beispielsweise bei Zelda II oder auch bei X-Wing) hatten nur eine Straße weiter ihren Zweitwohnsitz und waren zufällig in derselben Woche wie ich vor Ort. Und: mein Cousin hatte damals gerade einen neuen Computer bekommen – ein kleines Wunderding namens Amiga 500, der mir mit meinem heimischen C64 wie eine richtige Evolution vorkam. Was folgte, waren etliche neue Spielerfahrungen für mich. Das erste war, soweit ich mich erinnern kann, Pang, aber auch meine erste Runde Turrican wurde damals gespielt. Und jenes Spiel, das mir am meisten in Erinnerung bleiben sollte: Lemmings.

Die folgende Woche versuchten wir gemeinsam, uns durch die Levels zu arbeiten – was gar nicht so schlecht funktionierte, zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Irgendwo im dritten Schwierigkeitsgrad (und lange Passwortlisten später, immerhin gab es hier keine Savegames) blieben wir am Ende der Woche stecken. Was wir allerdings ausprobierten, war der Splitscreen-Modus, der am Amiga ermöglichte, mit zwei Mäusen (Mäuse waren am Amiga für das Gerät nichts anderes als Joysticks, weshalb man zwei gleichzeitig anstecken konnte – siehe auch meine Erinnerungen an Die Siedler) gegeneinander zu spielen. Hier ging es darum, am Ende am meisten Lemmings in seinem eigenen Ausgang zu haben, wobei man nur die Kreaturen seiner Farbe (die des zweiten Spielers hatten blaue Haare und grünes Gewand) lenken konnte, aber natürlich auch mit Geschick die Männchen des Gegners in sein eigenes Ziel führen konnte. Spannend und spaßig, aber ich muss zugeben, nicht gerade viel Langzeitmotivation in diesem Modus entdeckt zu haben. Nach dieser Woche habe ich ihn auch nie wieder gespielt.

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Nach diesem Urlaub wurde es aber auch erst einmal still um mich und die Lemmings. Zwar gab es später noch einen C64-Port, aber der fand nie den Weg zu mir. Dafür fand knapp ein Jahr später ein Amiga 500 den Weg in mein Zimmer – und mit ihm drei Spiele, die im Bundle dabei waren: The Simpsons: Bart vs. Space Mutants, Captain Planet (ein wirklich furchtbares Spiel) und Lemmings. Im Gegensatz zu meinem Cousin bekam ich zwar nur die Fassung auf einer Disk (der einzige Unterschied war, dass mir dadurch das Intro entging), aber endlich konnte ich selbst loslegen. Seit damals haben mich die Lemmings nie wieder losgelassen und wurden immer wieder hervorgeholt. Egal, wohin mich mein Spielerleben verschlug, auf irgendeiner Plattform waren die Lemmings nicht weit – vom Amiga über eine DOS-Version bis hin zu Windows. Und natürlich ein paar Ausflüge auf die (recht frühen) Konsolenfassungen.

Und irgendwie führt dieser Abschnitt damit schon zur Frage, warum ich Lemmings vermisse – und das könnte eine längere Liste werden. Wenn ich an Lemmings denke, denke ich an längst vergangene Zeiten, spannende Sessions, langes tüfteln, an ein Spiel, zu dem man immer wieder zurückkehrte (meistens mit einem Fluchen, weil die Passwortliste natürlich verloren gegangen ist). Ich denke an das lautstarke „Oh no“, bevor die kleinen Kerlchen explodieren und dieses leichte Gefühl von Schuld, das dieser Akt der Grausamkeit auslöste – so viel Charme in 8×8 Pixeln besaßen die Wusler –, das aber gleich darauf von der Freude abgelöst wurde, wie sehr ihre Explosionen die Levels verändern konnten (nur noch Worms macht ähnlich viel Derformier-Spaß!). An die wunderbare MIDI-Musik mit ihren klassischen über Traditional- bis Pop-Themen. Aber sogar an einzelne Levels kann ich mich nur allzu gut erinnern (vor allem an eine fiese 100%Welt mit jeder Menge Killermaschinen und einer Fall-Rate von 99 … dieses Level hat mich echt Lebenszeit gekostet). Vor allem aber vermisse ich Lemmings, weil das alte Flair nie wieder zurückkehrte. Ich mag die Sequels – und zwar jedes einzelne davon, von Lemmings 2: The Tribes und All New World of Lemmings bis hin zu Lemmings 3D und Lemmings Revolution –, aber diese Einfachheit, den Pixelcharme … das hat kein Lemmings mehr hinbekommen (und meiner Meinung nach auch die entsprechenden Klone nicht). Ich weiß, dass es Lemmings noch immer gibt – ein weitere Grund dafür, diese Woche die Lemmings rauszulassen, war die Ankündigung eines neuen Vita-Teils –, aber ich habe für mich festgestellt, dass ich Lemmings nicht auf der Konsole spielen möchte, sondern die Maussteuerung bevorzuge. Und da die Lemmings-Marke nunmehr Sony gehört, werde ich wohl auf einen neuen PC-Teil lange warten müssen. Schade eigentlich … wobei: Kann man die PS3-Fassung mit einer Maus spielen? Das wäre dann nämlich eine Investition wert …

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Florian Scherz

Bereits früh entwickelte Florian zwei große Leidenschaften: Videospiele und Theater. Ersteres brachte ihn zu einem Informatikstudium und zu Jobs bei consol.MEDIA und Cliffhanger Productions; zweiteres lässt ihn heute (unter anderem) als Schauspieler, Regisseur, Komponist und Lichtdesigner arbeiten. Wenn er gerade keine Musicals inszeniert, spielt oder schreibt, vermisst er auf Shock2 Videospiele von anno dazumal in seiner Blog-Reihe "Spiele, die ich vermisse".

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