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Spiele, die ich vermisse #177: Push-Over

Es gibt Spiele in der großen Master-Liste dieser Reihe, bei denen ich noch überhaupt nicht weiß, wann ich sie jemals vermissen soll – einfach, weil sich die richtige Gelegenheit nicht ergeben will. Und es gibt jene Titel, bei denen ich seit Jahren eigentlich nur auf den Moment warte, den ich für sie geplant habe. So schrieb ich bereits 2012 einen Titel in meine Excel-Tabelle, bei dem ich mir dachte „beim nächsten Domino-Day ist es dann soweit“. Das hätte ich mir allerdings damals besser überlegen sollen, denn die große Show der fallenden Dominosteine wollte einfach nicht mehr stattfinden – erst wurde sie langfristig gestrichen, dann hätte sie letztes Jahr wieder am Programm stehen sollen, wurde aber wegen Corona abgesagt. Egal – dann eben anders: Meine Tochter hat jüngst das Wunder der fallenden Domino-Steine entdeckt (ich dafür zum wiederholten Mal festgestellt, dass ich nicht die Nerven habe, um die Steine mit ruhiger Hand aufzubauen) und ich habe den zu vermissenden Titel auf GOG entdeckt. Grund genug, mich an ein Spiel zu erinnern, das fallende Dominosteine mit Videospiel verbindet: Push-Over.

Doch bevor wir uns den Dominosteinen widmen, wollen wir mit der Story des Spiels anfangen – und diese lässt sich in wenigen Worten beschreiben: Colin Curly (das damalige Maskottchen des britischen Snacks Quavers – das Spiel wurde in Kooperation mit dem Produzenten Smith Snackfoods produziert) lässt seine Snacks in einen Ameisenhügel fallen. Doch sind sie auch für immer verloren? Nein. G.I. Ant erklärt sich bereit, dem verzweifelten Hund zu helfen, und steigt in den Insektenbau hinab, um die Chips zu retten. Gut, die Story gewinnt keinen Preis und hat auch relativ wenig mit dem eigentlichen Gameplay zu tun: Wir steuern nun nämlich G.I. Ant durch 100 Level und müssen in jedem Abschnitt den zunächst verschlossenen Ausgang durchschreiten. Um das zu erreichen, müssen wir auf Kettenreaktionen setzen: In jedem Level findet sich ein Dominosteinpuzzle, das es zu lösen gilt. Dabei sind vor allem fünf Punkte zu beachten. Erstens: Wir dürfen nur einmal einen Stein anstoßen – welcher das ist, ist allerdings egal. Zweitens: Alle Steine (außer den Blockern) müssen umfallen, keiner darf zerstört werden. Drittens: Es ist nicht egal, wo das Fallen endet – der Schlussstein muss als letztes fallen. Viertens: Das Zeitlimit muss eingehalten werden. Und fünftens: G.I. Ant muss danach den Ausgang erreichen.

Um ein Level zu lösen, müsst ihr euch also vor allem um drei Dinge kümmern (und ja, damit sind wir in der nächsten Liste): Die Steine so umzustellen, dass sie eine korrekte Kettenreaktion bilden können, den richtigen Platz zum Anschubsen aussuchen und eventuell sogar noch während des Fallens (manchmal ist das aufgrund der Auswirkungen der diversen Steine nötig) zum Ausgang zu eilen. Das passiert in einer Seitenansicht des Levels und erinnert ein wenig an Jump’n’Runs, auch wenn man hier nicht springen kann. G.I. Ant kann einfach nur Steine nehmen und woanders wieder hinstellen, die Plattformen entlang- und Leitern hinauf oder hinablaufen oder in Abgründe fallen (sofern sie nicht zu tief sind, denn das überlebt unsere Ameise nicht). All das geht auch mit einem Stein in der Hand – bis auf das Fallen, denn dabei lässt unsere Ameise den Stein fallen, was (so ein anderer Stein darunter steht) in kaputten Dominos und damit einem notwendigen Neustart des Levels endet.

Soweit, so eigentlich einfach – aber der Teufel steckt im Detail. Es gibt immer wieder Bereiche, die man nicht erreichen und deshalb auch nicht umstellen kann, das Zeitlimit ist knapp, der Weg zum Ausgang versperrt sich im Laufe der Kettenreaktion von selbst oder öffnet sich erst durch fallende Steine. Und auch wenn das Spiel recht einfach beginnt, wird es bald ordentlich knifflig. „Schuld“ daran ist auch, dass es nicht nur ganz simple Dominosteine gibt, sondern zehn verschiedene Sorten, die allesamt besondere Eigenheiten haben. Den Schlussstein (drei rote Querstreifen) haben wir ja schon erwähnt – er muss als letzter fallen; auch der Blocker kam schon kurz vor – er ist völlig rot und fällt niemals um (und muss deshalb auch als einziger nicht fallen), dient aber dazu, die Fallrichtung eines anderen Steins zu ändern. Dann gibt es natürlich die ganz normalen, gelben Steine – sie fallen einfach um, wenn sie angestoßen werden (können aber dadurch natürlich auch einen anderen Stein anstoßen).

Damit hätten wir das „simple“ Repertoire an Dominos abgearbeitet, doch dann gibt es noch einige Steine mit Eigenschaften, die man so nicht einfach in einer echten Dominostein-Kettenreaktion erwarten dürfte: Der Ãœberschläger (ein roter Querstreifen) hört nicht auf, wieder und wieder umzukippen, bis er von einem liegenden Stein gestoppt wird (das kann auch einer sein, den er selbst gerade umgestoßen hat); der Verzögerer (rot/gelb diagonal geteilt) braucht kurz, bis er umfällt (und fungiert in dieser Zeit wie ein Stopper); der Teiler (gelb oben, rot unten) muss von oben „angestoßen“ werden (alle anderen Steine werden durch so eine Aktion zerstört) und seine zwei Hälften fallen dann sowohl nach links UND nach rechts, „spalten“ also die Reaktion in zwei Stränge auf; der Explodierer (gelb/rot längs geteilt) reißt ein Loch in den Boden (und unterbricht die Kettenreaktion, da er nicht fällt – er gilt aber auch erst als umgefallen, wenn er hochgegangen ist); der Aufsteiger (ein roter Längsstreifen) bricht die Gesetze der Schwerkraft, fliegt nach oben und „fällt“ dann an der Decke in Stoßrichtung um; der Ãœberbrücker (roter dünner Querstreifen) schließt eine schmale Lücke, wenn er in sie hineinfällt. Und der Verschwinder (zwei schmale rote Querstreifen) löst sich nach dem Umfallen auf.

Ihr merkt hier vielleicht schon: Das Spiel wird rasch (nach ersten Einführungslevels) komplizierter. Und dabei reden wir hier noch gar nicht von gewissen Sonderregeln, wie dass der Schlussstein wirklich völlig umfallen muss (er darf also nicht z.B. gegen einen Blocker gelehnt sein) oder dass es Level mit mehr als einem Schlussstein gibt, die dann auch wirklich gleichzeitig umfallen müssen. Das Knifflige ist aber eigentlich jedesmal, auf die Lösung zu kommen – fast immer sind nur wenige Umstellungen und natürlich der richtige Anstoßort nötig, um den Ausgang aufzumachen. Es gibt allerdings auch kleinere Hints, wenn man nach dem Zeitablauf auf Pause schaltet (auch wenn ein Hinweis bei einem der letzten Levels nur besagt, dass nicht mal der Designer noch weiß, wie man dieses Level löst). Außerdem gibt es noch Tokens, die man bekommt, wenn man ein Level innerhalb des Zeitlimits löst. Dieses kann man einerseits nutzen, um auch einen Abschnitt, bei dem man zu lange gebraucht hat, als gelöst zu markieren, oder um bei einer fehlgeschlagenen Kettenreaktion wieder zum Zeitpunkt vor dem Anstoßen zu kommen. Allerdings werden die Tokens nicht „mitgespeichert“ (echtes Speichern gibt es in dem Spiel nicht, aber Passwörter lassen euch den Fortschritt fürs nächste Mal aufbewahren) und ihr Einsatz kann dazu führen, dass man eine Packung Quavers überspringt, die im letzten Level eines Themenbereichs vergeben werden, wenn man in diesem das Limit eingehalten hat. Zum Abschluss gibt es mit dem 100. Abschnitt übrigens noch ein Bonuslevel, das eigentlich nicht so schwierig ist, aber durch das Fehlen von Markierungen auf den Steinen nur durch Trial und Error zu lösen ist (es ist allerdings möglich, eine spezielle Version ohne „Blanko-Steine“ freizuschalten).

Entwickelt wurde Push-Over von Red Rat Software, die bereits einige Erfahrung vorweisen konnten – vor allem auf diversen Heimcomputern. Von ihnen stammen Spiele wie Laser Hawk, Screaming Wings, Time Runner und International Soccer Challenge. Als Publisher trat Ocean Software auf, mit denen es nach vereinzelten Berichten allerdings zu einigen Zerwürfnissen wegen des Art-Styles und des Product-Placements kommen sollte, die schließlich (nach einem von Red Rat angestoßenen Rechtsstreit gegen den leider deutlich finanzkräftigeren Publisher) zum Aus für den Entwickler führen sollten (trotzdem entwickelten sie davor das Sequel One Step Beyond, das ebenfalls ein 2D-Puzzler war, allerdings mit Colin in der Hauptrolle und einem Dominostein-losen Gameplay).

Bei der Geschichte des Entwicklers überrascht es wohl nicht, dass Push-Over 1992 vor allem auf den Heimcomputern veröffentlicht wurde – auf Amiga, Atari ST und natürlich PC war das Spiel teilweise zum Vollpreis, aber zum Teil auch als Werbespiel erhältlich. Spannenderweise gibt es aber auch einen einsamen Konsolenport (für das Super Nintendo), der allerdings die Rahmenhandlung verändert: Das Product-Placement wurde entfernt, G.I. Ant sucht nun Geldbündel für eine Ratte. Das Gameplay bleibt allerdings ident – genauso wie der Typo in der Wahl der Sprache des Spiels, bei dem aus „Deutsch“ „Duetsch“ wird.

Dass das Gameplay damals relativ wenige Nachahmer fand, überrascht ein wenig, wenn man sich ansieht, dass Push-Over nicht nur gute Wertungen erhielt, sondern es auch heute noch zahlreiche, zum Teil erweiterte Fassungen des Spiels gibt, die Hobbyprogrammierer entwickelt haben – zum Beispiel eine Version von Ishisoft, aber auch eine OpenSource-Fassung von Andreas Röver. Mittlerweile kann man allerdings (wie schon eingangs erwähnt) auch wieder das Original spielen – sowohl auf Steam als auch auf GOG finden sich auf modernen PCs lauffähige Versionen. Leider sind diese so Original, dass man nach wie vor Passwörter mitschreiben muss.

Passwörter waren übrigens nicht das Problem, als ich Push-Over im Laufe der 90er in meine Hände bekam. Der Grund dafür? Videospielmagazine. Bis ich das Spiel endlich in mein Amiga-Laufwerk schieben konnte, waren schon längst die Codes für alle Level in Magazinen abgedruckt worden; das stellte eine starke Erleichterung für mich da, denn was es natürlich nicht gab, waren detaillierte Anleitungen, wie es sie heute im Internet zuhauf gibt (und sei es nur ein „Let’s Play“-Video). Damals musste man entweder die Lösung selbst finden, sich in der Schule mit Freunden austauschen oder eben sich per Code ins nächste Level „cheaten“. Ich würde also heute noch klar sagen, dass ich das Spiel sicherlich niemals zu 100 Prozent durchgespielt habe.

Tatsächlich handelt es sich bei Push-Over auch wieder um ein Spiel, das ich wohl ohne Magazine nie gespielt hätte: Wie bei so vielen anderen Titeln war es ein Review, das mich auf das Domino-Spiel neugierig machte. Wie schon eingangs erwähnt, war ich zwar nie besonders talentiert darin, in natura Steine aufzubauen (dafür fehlt mir die ruhige Hand), aber umso begeisterter beim Zusehen, wie sie alle der Reihe nach umfielen. Genau dieses Gefühl brachte Push-Over – ganz ohne nerviges Aufbauen – mit. Klar, hin und wieder musste man schon gehörig nachdenken, damit die Kettenreaktion erfolgreich zu Ende ging. Aber gerade jene Levels, in denen Steine in Scharen fielen, lösten bei mir wohlige Gefühle und kindliche Freude aus – zumindest dann, wenn ich nicht daran verzweifelte, die Steine korrekt umzustellen. Und manchmal war ich schon froh, mir zu merken, welcher Stein jetzt wirklich was macht – gerade nach zu langen Pausen waren die Markierungen nicht immer so eindeutig, dass es ohne Trial & Error ging.

Aber damit komme ich auch schon zum Ende: Warum vermisse ich Push-Over? Allen voran, weil mir sonst kein Domino-Stein-Spiel einfällt – und noch weniger eines, das so gekonnt Puzzle und den Spieltrieb der fallenden Bausteine verband. Das einzige seiner Art UND gelungenes Gameplay sind definitiv Alleinstellungsmerkmale. Trotzdem sind es nicht die einzigen Dinge, die mir in Erinnerung blieben: Auch Protagonist G.I. Ant (samt einiger ziemlich witziger Animationen) und das Werbemaskottchen Colin sind sympathisch, wenn auch letzterer überhaupt nicht Gameplay-Relevant ist und nur in den kurzen Cutscenes auftritt, die das Spiel mit jedem Snack unterbrechen. Kombinieren wir das mit den netten Hintergründen (die zwar in einem Ameisenhaufen überhaupt keinen Sinn machen, aber so streng wollen wir nicht sein) und den bisweilen harten Rätselnüssen, kommt ein Spiel heraus, das zumindest einzigartig und Erinnerungswert, insbesondere aber auch (wie mich ein kurzes Anspielen meines Neukaufs) noch immer gut spielbar ist – das kann nicht jeder Retroklassiker von sich behaupten. Und jetzt sollte ich wohl noch ein paar Dominosteine umwerfen …

Florian Scherz

Bereits früh entwickelte Florian zwei große Leidenschaften: Videospiele und Theater. Ersteres brachte ihn zu einem Informatikstudium und zu Jobs bei consol.MEDIA und Cliffhanger Productions; zweiteres lässt ihn heute (unter anderem) als Schauspieler, Regisseur, Komponist und Lichtdesigner arbeiten. Wenn er gerade keine Musicals inszeniert, spielt oder schreibt, vermisst er auf Shock2 Videospiele von anno dazumal in seiner Blog-Reihe "Spiele, die ich vermisse".

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  1. Hab es zwar damals nie gespielt aber ist mir komischerweise bis heute präsent. Zumindest die SNES Version. Die „catchy“ Farbpalette (Rot/Gelb) stach damals irgendwie raus in einem MesseberichtScreenshot in der (älterwürdigen) VideoGames. Müsste man eventuell mal nachholen.

  2. Wie immer ein toller Beitrag.

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