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Spiele, die ich vermisse #125: The Great Giana Sisters

Die höchste Form der Anerkennung ist die Nachahmung, heißt es. Dennoch ist die Grenze zum Plagiat natürlich bisweilen fließend – wo endet die Hommage, das Zitieren mit genügend Eigenständigkeit, und wo beginnt die dreiste Kopie, bei der gnadenlos abgepaust und zu wenig verändert wird? Bei all den Ehren, die es dieses Monat zum 30. Geburtstag von Super Mario Bros. gibt, biege ich in meinen Gedanken um diese Ecke, und vermisse ein Spiel, das weder von Nintendo stammt noch der berühmten Latzhosenträger in der Hauptrolle hat. Ich denke vielmehr an einen Titel, dem bis heute nachgesagt wird, dass er eine zu genaue Nachahmung des ersten Mario-Titels darstellte und deshalb von Nintendo per Klage aus dem Handel zurückgezogen wurde. Von was ich spreche? Rückt beiseite, Mario Brothers – hier kommen The Great Giana Sisters!

Tief in der Nacht: Giana, ein Mädchen aus Milan, hat einen Alptraum. Sie findet sich in einer seltsamen Welt wieder, in der unheimliche Kreaturen hausen. Eigentlich will sie nur nach Hause, doch so einfach ist das nicht – nur ein großes Juwel wird ihr den Weg zurück weisen, wenn sie es denn erst finden kann. Doch auch ihre Schwester Maria hat es in diese Traumwelt verschlagen … Zugegebenermaßen ist die Geschichte jetzt nicht besonders aufregend – andererseits ist „Bowser hat die Prinzessin entführt“ nun auch nicht gerade ein Meisterwerk der Erzählkunst und der Weg ist hier ganz eindeutig das Ziel. Immerhin ist die Story nicht mal wirklich notwendig, um sich ins Abenteuer zu stürzen.

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Ist das Spiel erstmal gestartet, wird rasch offenkundig, warum Giana Sisters wahlweise als allzu dreister Mario-Klon oder dann doch geniale Hommage gilt. Genauso wie im 1985 erschienenen Super Mario Bros. seht ihr die Spielwelt von der Seite, lauft von links nach rechts, hüpft, sammelt Power-Ups, springt Gegnern auf die Köpfe und versucht, den Ausgang zu erreichen, bevor die Zeit ausläuft. Sogar die grafische Gestaltung und das Farbschema erinnert stark an die Mario-Brüder – von den golden leuchtenden Blöcken, in denen Goodies versteckt sind, über die braunen Mauern, die man mit dem richtigen Power-Up zerbröseln kann und die ersten Gegner, die stark an Goombas erinnern. Klar, man sammelt hier nicht Münzen, sondern Diamanten, die „Röhren“ sehen eher nach Säulen aus, aber dennoch erkennt man rasch, wer hier das große Vorbild gewesen ist. Übrigens kann man die Säulen natürlich nicht „betreten“ – stattdessen verstecken sich Bonusräume – die es natürlich trotzdem gibt – in manchen Abgründen.

Und damit sind wir auch schon bei den Unterschieden gelandet. Davon gibt es dann auf den zweiten Blick doch einige, die Giana Sisters (das übrigens im Intro noch „Gianna Sisters“ heißt, aber aufgrund eines Schreibfehlers auf der Verpackung in die heute gültige Form umbenannt wurde) vom „billigen“ Plagiat abheben. Das beginnt schon allein bei der Tatsache, dass sich die Feinde (zumindest teilweise) unterscheiden: Koopas samt wegkickbaren Panzer gibt es hier nicht (am ehesten passt dazu noch irgendwie der Krebs, den man von hinten nicht abschießen kann), dafür aber einige Feinde, wie zum Beispiel die springenden Schleimbälle oder die laufenden Augäpfel-Hunde (keine Ahnung, wie die wirklich heißen sollen), für die es unmittelbar kein Mario-Gegenstück gibt. Auch bewahrt kein Power-Up Giana (oder Maria, wenn ihr zu zweit spielt) davor, ihr Leben bei Feindberührung auszuhauchen – „klein“ werden ist nicht, stattdessen heißt es ein Leben weniger, egal, wie viele Power-Ups ihr eingesammelt habt.

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Apropos Power-ups: Die sind hier deutlich zahlreicher vertreten als beim „Original“: Berührt das adrette Mädchen (inklusive Schleife im Haar) das erste Power-Up, den Ball, verwandelt sie sich in ein eine Rockerin mit Punk-Frisur und kann fortan Mauerblöcke zerbröseln lassen, indem sie dagegen springt. Das nächste Update ist ein Blitz – hat sie diesen eingesammelt, kann sie auf Feinde schießen. Dieser Schuss bewegt sich in einer sanften Sinus-artigen Kurve über den Screen, zerbröselt aber beim ersten Kontakt mit einer Mauer. Das ändert sich, sobald sie den Doppelblitz einsammelt – ab diesem Zeitpunkt wird der Energieball nämlich reflektiert und kommt wieder zurück. Noch spannender wird es, sobald Giana die Erdbeere einsammelt, denn dann hat sie eine Fähigkeit, die die Mario-Brüder nie hatten – ihre Schüsse steuern automatisch den nächsten Gegner an. Damit noch nicht genug, tauchen danach noch weitere Items auf – eine Uhr, mit der man die Zeit anhalten kann (was Gegner daran hindert, sich zu bewegen), eine Bombe, die alle Feinde auf dem Screen ausschaltet (sofern sie ausgeschaltet werden können) sowie der Wassertropfen, der Giana gegen Feuer unempfindlich macht. Diese Items erscheinen der Reihenfolge nach in bestimmten Blöcken. Genauso wie man in Super Mario Bros. den Pilz einsammeln muss, bevor man eine Feuerblume bekommen kann, wird man hier niemals die Uhr erhalten, bevor man Giana nicht mit dem Zielschuss ausgestattet hat.

Entwickelt wurde Giana Sisters von Time Warp Productions, einem deutschen Team, das sich aus dem mittlerweile verstorbenen Programmierer Armin Gessert (der später zum CEO von Spellbound wurde und unter anderem an Airline Tycoon, Desperados 2 oder Gothic 4 beteiligt war), dem Programmierer Manfred Trenz (der später unter anderem maßgeblich an der Turrican-Reihe beteiligt war, aber auch unter anderem bei Ankh, Katakis und R-Type mitwirkte), und dem heute wohlbekannten Komponisten Chris Hülsbeck (aka „Meister der wohlgeformten Hüllkurve“, der untere anderem den Turrican-Soundtrack ablieferte) zusammensetzte. Als Publisher trat Rainbow Arts auf, die das Spiel zunächst 1987 für den C64 in den Handel brachten, später aber auch Umsetzungen für den Atari ST und den Amiga veröffentlichten. Letztere gilt als die seltenste veröffentlichte Version, während eine Version für den ZX Spectrum zwar noch getestet wurde (zumindest von einem einzigen Magazin), aber nie erschien, und eine Amstrad CPC-Version ebenfalls kursiert, aber als unfertig gilt und eher so wirkt, als wäre sie geleaked worden.

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Das bringt natürlich die Frage „Warum?“ – und damit kommen wir zu jenem Kapitel rund um The Great Giana Sisters, das wohl die Legendenbildung beschleunigte. Fakt ist: Knapp nach dem Release der ersten 16-Bit-Versionen verschwand das Spiel aus den Händlerregalen. Was war geschehen? Genau darüber existieren verschiedene Geschichten und Spekulationen. Lange Zeit kursierte die Meldung, dass Nintendo vor Gericht gezogen war, Rainbow Arts und Time Warp Productions wegen ihres Plagiats verklagt hatte und einen Verkaufsstopp erwirkt hatte. Das scheint allerdings aus heutiger Sicht nicht haltbar, denn viele Beteiligte, die auch heute noch auf diesen Streit angesprochen werden, erklärten, sie wüssten nichts von einer Klage. Tatsächlich dürfte es nie zu einer solchen gekommen sein, aber dennoch wurde Nintendo auf The Great Giana Sisters aufmerksam – kein Wunder, wurde das Spiel doch zum Beispiel in England großspurig mit „The Brothers are History“ beworben. Statt gleich vor Gericht zu ziehen, wandte man sich schriftlich an Rainbow Arts, die es nicht auf eine Klage ankommen ließen und ihren Titel aus dem Handel zurückzogen. Für die Kunden hatte das kaum Auswirkungen – das Spiel verbreitete sich in dieser Hochblütezeit der Kopien ohnehin rasend schnell und war in vielen Sammlungen zu finden. Wer allerdings heute noch ein Original (vor allem der Amiga-Version) möchte, muss tief in die Tasche greifen. Für die Entwickler hatte das etwas mehr Auswirkungen. Das bereits geplante Sequel wurde umgestaltet und alle Giana-Referenzen entfernt. So wurde aus Giana 2 – Arther and Martha in Future World Hard ’n‘ Heavy. Ein echtes Giana-Sisters-Sequel erschien erst 2009 mit Giana Sisters DS knapp vor Armin Gesserts Tod. Er war noch als Executive Producer an dem Titel beteiligt.

Für mich persönlich zählt The Great Giana Sisters zu meinen ersten C64-Spielen – so wie auch etliche andere Spiele, die ich hier bereits vermisst habe, wie Space Taxi, Super Pipeline, Lazy Jones, Hexenküche, Snoopy, Summer Games und viele andere, fand es sich sehr früh in meiner 1541 wieder. Wirklich sagen, ob es bei der ersten Welle dabei war, könnte ich heute zwar nicht mehr, aber ich kann definitiv sagen, dass es meine Jump’n’Run-Erfahrungen weit vor den Mario-Brüdern prägte. Das ging sogar soweit, dass mir dann meine ersten echten Erfahrungen mit Mario (jenseits einer kurzen Episode mit Super Mario Bros. 2 wäre das dann Super Mario Land, bevor dann auch endlich ein NES und sämtliche Mario-Teile bei mir Einzug hielten) seltsam vorkamen. Das lag vor allem an zwei Dingen: Giana Sisters hatte mir beigebracht, dass es eine Unmenge an Power-Ups gibt – da konnte Mario mit zunächst nur Pilz und Feuerblume (und natürlich dem Stern) nicht so einfach mithalten. Zweitens – und viel fataler – war da die äußerst ungewohnte Steuerung, die mit Mario einherging. Auf dem C64, der ja nur einen Feuerknopf kannte, der für den Feuerball vorgesehen war, liefen die Dinge einfach ein wenig anders ab – gesprungen wurde, indem man den Joystick nach oben drückte (wie lange man das tat, steuerte die Intensität des Sprunges, da es ja eine rein digitale Eingabe war) und Laufen war gleich gar nicht vorgesehen. Das löste zugegebenermaßen eine kleine Krise zwischen mir und Mario aus, denn all meine Reflexe waren Giana-gestählt – und funktionierten deshalb nicht so, wie sie sollten. Das erforderte einige Einarbeitungszeit und etliche Beschwerden über die Unlogik, Springen auf einen Feuerknopf zu legen – heute habe ich mich selbstverständlich daran gewöhnt.

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Übrigens: Als erste Version durchgespielt habe ich nicht Giana Sisters, sondern einen Hack des Spiels (ich hatte beide Versionen, aber diese zweite hatte einen Trainer, der u.a. unendliche Leben bescherte – sehr praktisch zum Üben), der Super Mario Brothers hieß. Dabei handelte es sich technisch gesehen um dasselbe Spiel mit wenigen Änderungen: Die Schwestern wurden zu Mario und Luigi, die Diamanten runder (sodass sie eher Münzen ähnelten), die Blöcke bekamen ihr Fragezeichen und der Ball wurde zum Pilz. Diese Änderungen waren aber natürlich reine kosmetische Abwandlungen, unterstrichen aber natürlich noch deutlicher, wo die Spielidee herkam. Auch wenn es ein Hack war und inoffiziell, könnte man also sagen, dass dies das erste Mario-Spiel war, das ich durchspielte.

Vieles von dem, was ich heute über das Spiel schreibe, kann ich aber natürlich nur aus dem „heute“ sagen – aus dem damals heraus, als es für mich diesen Mario-Vergleich noch gar nicht gab und mir Plagiatsklagen völlig egal waren, konnte ich Giana Sisters als das genießen, was es war. Warum ich es bis heute vermisse? Weil es ein tolles Jump’n’Run mit etlichen fordernden (bisweilen auch richtig kniffligen) Passagen und einigen wohldurchdachten Ideen war. Weil es das erste Jump’n’Run war, das mir das „Mario-Prinzip“ gelehrt hat. Klar muss ich aus dem heute heraus sagen, dass das Grundprinzip ganz klar Nintendos Vorzeigespiel entnommen wurde – aber das machte Gianas Abenteuer nicht schlechter, denn die Ideen, die man übernahm, waren gut – immerhin sollten sie sich rasch zum Standard mausern. Dazu kamen aber natürlich die zahlreichen eigenen Elemente, wie eigene Powerups, und das, was in meinem Kopf die Zeit wohl am besten überdauert hat – die Musik, vor allem das großartige Titelthema von Chris Hülsbeck, das heute noch für mich ganz weit oben bei den 8-Bit-Chiptunes steht. Und alleine dafür muss man die Schwestern vermissen.

Florian Scherz

Bereits früh entwickelte Florian zwei große Leidenschaften: Videospiele und Theater. Ersteres brachte ihn zu einem Informatikstudium und zu Jobs bei consol.MEDIA und Cliffhanger Productions; zweiteres lässt ihn heute (unter anderem) als Schauspieler, Regisseur, Komponist und Lichtdesigner arbeiten. Wenn er gerade keine Musicals inszeniert, spielt oder schreibt, vermisst er auf Shock2 Videospiele von anno dazumal in seiner Blog-Reihe "Spiele, die ich vermisse".

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