Review: Clair Obscur: Expedition 33
Das französischste JRPG aller Zeiten
Es gibt wohl kaum ein Genre, das so stark mit einem Land verbunden wird wie das japanische Rollenspiel – immerhin trägt es bereits die Nation bereits im Namen. Denkt man an die Größen dieser Art von Spielen, denkt man fast unausweichlich an zahlreiche legendäre Titel, die ihren Ursprung im Land der aufgehenden Sonne haben – von diversen Final Fantasy-Spielen über Dragon Quest, Xenogears, Persona bis hin zu Chrono Trigger (und dass diese Aufzählung ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit ist, versteht sich von selbst). Gleichzeitig hat sich das Genre in den letzten Jahren drastisch gewandelt: Neben Spielen, die sich auf die Tradition besinnen und eigentlich nur die Klassiker im modernen Gewand sein wollen, gibt es auch zahlreiche Titel, die die Wurzeln hinter sich lassen. Clair Obscur: Expedition 33 ist eine Überraschung: Ein eher traditionelles, auf die Wurzeln fokussiertes Spiel, das aber dann doch die Formel modernisiert, nicht aus Japan, sondern aus Frankreich stammt und die dazugehörige Kultur stolz vor sich herträgt. Kann das aufgehen?
Bildnis der Ruinen einer vergänglichen Welt
Die Welt von Clair Obscur: Expedition 33 ist eine düstere: Nach dem Bruch hat sich die verbleibende Menschheit auf die Insel Lumière zurückgezogen und erwartet ihr Schicksal. Eine mysteriöse Malerin sitzt fernab auf ihrem Monoliten und schreibt einmal im Jahr eine neue Zahl auf ihn – immer um eins weniger als im Vorjahr. Das Resultat? All jene, die dieses Alter haben, versterben. Man nennt dieses Ereignis die Gommage. Diese wirft einige existenzielle Fragen auf – zum Beispiel jene, ob es überhaupt noch Sinn macht, Kinder zu bekommen, wenn diese nur auf ihren immer näher kommenden Tod zugehen, oder wie eine Gesellschaft funktionieren kann, bei der es immer weniger Zeit gibt, um die Erfahrung an die junge Generation weiterzugeben – und regt zumindest manche Menschen zum Widerstand an: Jahr für Jahr bricht eine Expedition mit Freiwilligen auf – meist jene, die ohnehin nur noch bis zur nächsten Gommage zu leben hätten -, um die Malerin aufzuhalten oder zumindest der nächsten Expedition den Weg zu bahnen. 66 davon sind gescheitert. Dies ist die Geschichte von Expedition 33.
Die Atmosphäre packt
Wir wollen euch gar nicht zu viel über die Geschichte erzählen, denn Clair Obscur: Expedition 33 lebt von seiner Story, von seinen Figuren, von der Ungewissheit – und seiner Stimmung. Schon lange haben wir kein JRPG mit einer solch dichten Atmosphäre erlebt, die mit ihrer melancholisch/fatalistischen Grundeinstellung – für die nicht nur die gekonnten grafischen Designs und Dialoge, sondern auch der brillante Soundtrack, den wir noch lange nicht aus den Ohren bekommen werden, verantwortlich sind – an Rollenspielklassiker wie Lost Odyssey und Final Fantasy X erinnert. Das heißt aber nicht, dass es in diesem Rollenspiel nur trostlos zugeht: Gerade dadurch glänzen die Momente der Hoffnung, die Resilienz der Protagonisten, die sich gegenseitig stützen, und einige wirklich witzige, skurrile Sequenzen. Denn ja, auch wenn die Bewohner von Lumière kaum Ahnung haben, was draußen am Festland vor sich geht, geht das Leben dort weiter und hat einige bizarre Dinge hervorgebracht. Die Reste unserer Welt sind surreal verzerrt, die Helden müssen sich auf Sagen, Legenden und die wenigen Berichte von Zurückkehrenden aus vergangenen Expeditionen stützen – und selbst damit mag vieles seltsam und magisch anmuten. Und trotzdem hat sie nichts darauf vorbereitet, was draußen auf sie wartet.
Eine Party in Ausnahmesituation
Wenn man sich als Spieler darauf einlassen kann, sind Story und Atmosphäre die ersten Elemente, die uns an das Spiel fesseln – genauso wie die Charaktere unserer Party, die völlig unterschiedlich rüberkommen und mit ihren eigenen Dämonen kämpfend in dieses Abenteuer gehen. Vor allem Protagonist Gustave (im Englischen übrigens gesprochen von „Daredevil“ Charlie Cox) darf hier eine ordentliche Spanne an Emotionen rüberbringen. Aber für die gesamte Party gilt: Ihr Schicksal lässt uns niemals kalt, und während wir versuchen, langsam zu entschlüsseln, was mit der Welt passiert ist, lässt uns die Suche nach Antworten nicht los. Allerdings könnte das Pacing hier ein wenig besser sein: Clair Obscur will seine Antworten möglichst lange herauszögern und lässt selbst fundamentale Konzepte der Story zunächst fast zu vage – was ein wenig bizarr ist, wenn man bedenkt, dass gerade Gustave, der klar als „unsere Figur“ präsentiert wird, eigentlich zumindest durch seine Studien in Lumière mehr wissen sollte als wir. Hier hat beispielsweise ein FF X, bei dem Tidus genauso wenig Ahnung hatte von Spira wie wir, in Sachen Spieler/Spielfigur-Verbindung die Nase vorn gehabt. Das ist allerdings nur ein kleines Detail, denn je weiter die Expedition voranschreitet, desto weniger hat Gustave noch einen Wissensvorsprung vor uns.
Final Fantasy …
Unser Abenteuer erinnert in weiten Zügen an die klassische Zeit von Final Fantasy & Co.: Wir reisen über die Weltkarte (ein Feature, das wir in JRPGs dieser Größenordnung nur noch selten zu sehen bekommen) von Ort zu Ort und erkunden dort vereinzelt Städte, aber meist Dungeons (die natürlich nicht nur ein Höhlenverlies sind, sondern auch ein völlig anderes Aussehen annehmen können). Wenn man einen Schwachpunkt suchen würde, wäre dieser wohl trotzdem vor allem dort zu finden: Die Abschnitte geben zwar die Illusion von Offenheit, sind aber gleichzeitig dann doch linear, weil Abzweigungen nur selten wirklich alternative Routen darstellen. Trotzdem kann man sich vor allem in so manchem dunklen Bereich (von denen es in diesem Spiel mit seiner gedämpften Farbpalette so einige gibt) dann doch vorzüglich verlaufen – und zwar vor allem deshalb, weil die Entwickler auf eine Minimap verzichtet haben. Die offizielle Begründung ist, dass man so die Spieler zum Erkunden anregen möchte, doch im Endeffekt hätten wir uns doch öfter eine Karte für mehr Übersicht gewünscht, anstatt nach einigen Biegungen für uns überraschend wieder am Ausgangspunkt zu landen. Denn ja: Es lohnt sich natürlich trotzdem, auch alternative Abzweigungen zu untersuchen, um die Materialien für die Verbesserung unserer Waffen und neue Pictos zu finden (letztere sind ausrüstbare passive Fähigkeiten, die nach vier Kämpfen von euren Helden gemeistert werden) – und auch so manchen harten Gegner. Gerade hier zeigt sich aber der Haken daran, dass die Orientierung nicht immer klar ist: Wir haben uns durch so manchen kniffligen Kampf gemetzelt, bis wir erkannten, dass dieser Feind nur optional war, und die eigentliche Route uns an einen anderen Ort geführt hätte …
… trifft Dark Souls und Mario & Luigi?
Damit sind wir aber auch schon bei den Kämpfen, die ein herrlicher Mix aus allerhand Rollenspielsystemen und ihren Eigenheiten sind und trotzdem ihr eigenes, flottes, aktives Spielgefühl ergeben. In den rundenbasierten Gefechten (man sieht praktischerweise im Stil von FF X, welche Figuren wann an die Reihe kommen) können wir wahlweise einfach angreifen, unsere Fernkampfwaffe einsetzen, eine unserer Fähigkeiten verwenden (jede Figur kann maximal sechs davon ausgerüstet haben, die ihr per Skilltree freischalten könnt), oder unsere Items nutzen. Letztere werden übrigens nicht in Shops erworben, sondern stehen uns einfach so in begrenzter Anzahl zur Verfügung; aufgefüllt wird ausschließlich an Fahnen von vergangenen Expeditionen, wo man sich auch ausruhen und so die Lebensenergie wieder regenerieren kann. Gerade in harten Kämpfen kann es also durchaus passieren, dass uns die Regenerationsitems ausgehen und wir nur noch die passenden Fähigkeiten verwenden können, um zu heilen. Clair Obscur setzt bei den Skills übrigens nicht auf ein klassisches MP-System, sondern auf AP, die durch unsere Taten am Schlachtfeld aufgebaut werden – und auch nur in diesem Kampf verwendet werden können. Es macht also Sinn, sich mit den Fähigkeiten seiner Charaktere (die allesamt ihre eigenen Kampfmechaniken haben) auseinanderzusetzen und herauszufinden, wie man die Schwachstellen der Feinde ausnutzt, schnell AP generieren kann und welche Skill-Kombinationen extra stark sind – so haben z.B. manche Skills Zusatzeffekte, wenn der Gegner brennt, oder Picto-Fähigkeiten helfen, schnell Stärke zu generieren. Und noch etwas müsst ihr rasch lernen: Wie ihr den Angriffen der Gegner ausweichen könnt. Ähnlich wie bei Mario & Luigi gilt es hier nämlich, zum richtigen Zeitpunkt aktiv auf einen Knopf zu drücken, um Schaden zu verhindern. Anders als bei den Skills, wo ihr Quick-Time-Event-artig angezeigt bekommt, wann ein Buttondruck die Ausführung stärken würde, müsst ihr hier selbst erkennen, wann ihr reagieren müsst – nicht immer ganz einfach, wenn die Gegner noch ein wenig zögern, bevor sie die Waffe schwingen. Wem das dann doch zu einfach ist, pariert stattdessen. Das hat Vorteile, ist aber noch zeitkritischer. So oder so: Ohne das richtige Timing sind die Kämpfe oft sehr herausfordernd bis unmöglich, und das Ausweichen ist daher mindestens so wichtig wie die richtige Taktik, um nicht den Game Over-Screen zu sehen. Und ja, es kann frustrierend sein, wenn man ein eigentlich simples Pattern mal wieder falsch deutet, aber gleichzeitig ist es unglaublich befriedigend, wenn man es dann endlich begriffen hat – ein wenig wie bei Dark Souls, aber mit senkbarem Schwierigkeitsgrad (was das Ausweichen einfacher macht) und in Rundenkampf-Form, wenn auch mit Echtzeit-Elementen. Das macht die Kämpfe zu einem echten, spannenden Highlight.
Kompakt genial
Was Clair Obscur bei all der Wucht, den grafischen Ideen und dem genialen Gameplay besonders macht: Hier arbeitete nur ein kleines Team (rund 35 Mitarbeiter) an einem überaus ambitionierten Projekt – und zwar ohne daran zu scheitern. Wenn man die fehlende Mannstärke bemerkt, dann vielleicht an Kleinigkeiten. Nicht alle Dungeons sind zum Beispiel so abwechslungsreich wie sie könnten, auch wenn euch einige einzigartige, stimmungsvolle Designs erwarten. Minigames gibt es wenige, aber diese fallen gerne aus technischen Gründen (wie zu kleinen Hitboxen) unter „nervig“. Und – und da wurde wohl aus der Not eine Tugend gemacht – das Spiel steht auch in der Spiellänger eher in der Tradition der Klassiker. Wer sich halbwegs ranhält, ist in 30 Stunden durch Clair Obscur durch – wer mehr, wie optionale Bosse, erleben will, kann aber auch um die 50 Stunden einplanen. Trotzdem: Mit den ganz großen aktuellen 100 Stunden-Monstern will das Spiel nicht mithalten – und muss es gar nicht. Dadurch bleibt die Storyline kompakt, das Erzähltempo hoch und die Spannung aufrecht.
Lokalkolorit
Nachdem wir schon vorher über das Entwicklerteam gesprochen haben, noch schnell ein paar Worte zum französischen Lokalkolorit, der das Spiel prägt. Denn ja, hier haben die Macher nicht einfach das JRPG-Genre inklusive den japanophilen Elementen kopiert, sondern den französischen Geschmack hineingebracht. Stilistisch ist Lumière eindeutig aus Paris entstanden, das Design der Figuren erinnert an die Belle Époque, die Kostüme der Charaktere haben französischen Flair und selbst so mancher Gegner ist eine frankophile Anspielung (wir sagen nur „Pantomime“). Auch in der Musik mit ihrem atmosphärischen Sound zwischen Akkordeontönen, Elektro-Swing und stimmungsvollen Piano und Cello-Balladen darf der französische Stil inklusive Liedtexten in der Landessprache nicht fehlen und sorgt für Atmosphäre. Bei der Sprachausgabe dürft ihr euch zwischen dem französischen Original und einer gelungenen englischen Synchro (neben dem schon erwähnten Charlie Cox u.a. mit Andy Serkis, Jennifer English und Ben Starr) entscheiden. Auf Deutsch gibt es allerdings nur eine (durchaus passable) Text-Übersetzung, aber keine Sprachausgabe.
Fazit:
Wertung: - 9
9
Vielleicht das JRPG des Jahres
Wer hätte das gedacht? Clair Obscur: Expedition 33 erweist sich als JRPG der klassischen Formel, aber mit genug Modernisierung, um diese ordentlich durchzurütteln und aufzuwerten. Für ein kleines Team ist ein Spiel mit diesen Schauwerten, diesem Ohrenschmaus, diesen tollen Gameplay-Ideen oft eine zu große Aufgabe – doch das Resultat braucht sich definitiv nicht hinter größeren Titeln von Spieleschmieden mit mehr Erfahrung verstecken. Gemeinsam mit der gut geschriebenen Story, den Charakteren, die uns ans Herz wachsen, und der unglaublich dichten Atmosphäre ist Clair Obscur tatsächlich ein Anwärter auf das JRPG (und für manche vermutlich sogar Spiel) des Jahres. Wir können dazu nur sagen: Wenn das das Erstlingswerk ist, dann bitte mehr davon!
Entwickler: Sandfall Interactive
Erscheint: 24. April 2025
System: Xbox Series, PC, PlayStation 5
Preis: ca. 50 €