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Spiele, die ich vermisse #15: Die Versuchung (Tender Loving Care)

Als ich diese Blogserie startete, tat ich es mit dem Hintergedanken, nicht nur Softwareperlen von damals in Erinnerung zurückzurufen, sondern auch ein paar persönliche Klassiker mit Ecken und Kanten zumindest in schriftlicher Form wieder auferstehen zu lassen, die sonst wohl kaum jemand einer Retro-Betrachtung würdigen würde. Letzteres ist mir in den letzten Folgen dieses Blogs nur begrenzt gelungen. Das will ich diesmal ein wenig kompensieren, indem ich mich einem Spiel widme, das mir schon in meinen ersten Entwürfen dieser Serie vorschwebte. Das mache ich allerdings nicht ganz grundlos, denn der Zufall hat auch diese Woche wieder zugeschlagen: Erstens erschien das Spiel für iOS, zweitens konnte ich im Rahmen der Vorbereitung für den nächsten C4-Podcast (der sich um das Thema Interaktive Filme drehen wird, soviel sei schon mal verraten) einige Male mein Wissen über genau diesen Titel auspacken (wohlgemerkt nur in der Vorbereitung – im C4-Podcast hört ihr die bewährte Crew, also Michael, Alex, HP und Leo). Ihr merkt also bereits, wohin die Richtung geht: Das Spiel, das ich diese Woche vermisse, gehört zum Genre „Interaktiver Film“ und ist ein Nischentitel – der mich dennoch bis heute verfolgt. Die Rede ist von Die Versuchung, heutzutage eher unter dem englischen Titel Tender Loving Care bzw. dem Kürzel TLC bekannt


Ich weiß, was ihr jetzt sagen werdet – interaktive Filme haben nicht unbedingt den besten Ruf und das meistens zu recht. Der Versuch, ein lineares Medium, wie eben den Film, mit Entscheidungsfreiheit a la Videospiel zu verknüpfen, ging meistens großräumig schief. TLC versuchte deshalb gar nicht erst, in die Filmschnippsel Entscheidungen einzubauen, in denen schnelle Reflexe über Sieg oder Niederlage entscheiden konnten (ja, Dragon’s Lair, ich rede von dir …), sondern setzte auf ein anderes Konzept: Psychologie, Voyeurismus und ungestörten Filmgenuss. Doch der Reihe nach …

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Nachdem wir hier von einem interaktiven Film reden, sprechen wir zuerst über den Film-Teil. Die Handlung von TLC erzählt von einem Ehepaar, nämlich Michael und Allison Overton, das mit den Folgen eines schweren Unfalls zu kämpfen hat. Was genau vorgefallen ist, weiß man zu Beginn nicht genau: Michael scheint den Vorfall jedoch am besten verkraftet zu haben und will demnächst wieder zu arbeiten beginnen, sobald er sich nicht mehr um seine Frau kümmern muss. Diese ist nämlich abweisend, zurückgezogen und macht sich nur Sorgen um ihre Tochter Jody. Doch bald soll alles anders werden: Eine Krankenschwester soll einziehen, Allison und Michael entlasten und sich um Jody kümmern. Womit niemand gerechnet hat: Die Schwester, Katherine Randolph, ist nicht nur jung und sexy – was Michael nur zu rasch bemerkt – sondern setzt auch auf unorthodoxe Methoden, um die Dinge, die im Haus vorgefallen sind, aufzuarbeiten …

Schon zu Beginn des Spiels ist klar, dass die Handlung eigentlich schon vorbei ist und ein Psychologe (John Hurt, der einzig bekannte Schauspieler in TLC) versucht, herauszufinden, was denn nun genau in dem Haus an schrecklichen Dingen vorgefallen ist und uns deshalb als „unbefangenes Testsubjekt“ eine Meinung bilden lassen will. Aus diesem Grund gibt es am Ende jedes Kapitels eine Umfrage, in der Fragen nicht nur, aber auch zum Geschehenen beantwortet werden sollen. Dabei handelt es sich allerdings nicht um klassische „richtig oder falsch“-Fragen, sondern tatsächlich um Meinungen. Hegt ihr Sympathie für Allison oder steht ihr auf der Seite von Katherine? Welche Eigenschaften beschreiben Michael am besten in den gesehenen Szenen? Die Antwort ist selten eindeutig zu geben, vielmehr müsst ihr euch auf euer Gefühl verlassen.

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Doch damit nicht genug: Nach diesem Test könnt ihr euch frei durch das Haus bewegen. Dabei wird die Verwandtschaft mit The 7th Guest (Designer Rob Landeros war vorher bei Trilobyte) offensichtlich, denn man bewegt sich auf vorgerenderten Pfaden durch das Haus, beobachtet die Einwohner, liest Tagebücher und Magazine, stöbert in den Computern herum und bekommt so allerhand Hintergrundinformationen. Kein Zufall, dass euch so mancher Bewohner des Hauses, der euch bemerkt, als „Voyeur“ anspricht.

Habt ihr genug davon, müsst ihr euch dem letzten Teil des Spiels stellen: einem Psychotest. Das Instrument der Wahl dafür ist der sogenannte Thematische Apperzeptionstest (TAT), der hier in einer abgewandelten Version zum Einsatz kommt. Wendet ein Psychologe diesen Test an, zeigt er euch Bilder und lässt euch eine Geschichte dazu erzählen, fragt euch, wie es zu der Situation kam, wie sich die Personen fühlen, etc. Natürlich ist es in einem Spiel nicht möglich, den User ganze Geschichten erzählen zu lassen. Deshalb gibt es einfach mehrere Antwortmöglichkeiten und ihr müsst euch für eine entscheiden. Das ist nicht immer ganz optimal, da man manchmal auf gänzlich andere Lösungen kommen würde, aber in den meisten Fällen ausreichend.

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Der interaktive Film war jenes Merkmal, das in den diversen Reviews am meisten herausgestrichen wurde, meistens mit einer Betonung darauf, wie unterschiedlich sich die Handlung entwickeln konnte. Denn anhand eurer Antworten auf die Fragen des Psychologen sowie euren Psychotest entschied sich, wie die Handlung weitergeht. Das Resultat waren Diskussionen der Marke „hat sich bei Kathryn bei euch auch am offenen Fenster die Bluse ausgezogen oder hat sie vorher die Vorhänge runtergelassen?“. Meist bestanden die Änderungen aus alternativen Szenen oder einigen Schnitten, aber am Ende gab es durchaus verschiedene Ausgänge der Handlung. Insgesamt muss mal allerdings sagen, dass man weniger Kontrolle über den Film hatte, als man sich zu Beginn vielleicht dachte. Zu keinem Zeitpunkt konnte man eine direkte Kontrolle über die Ereignisse ausüben, sondern nur seine eigenen Schlüsse ziehen. So dachte ich mir zum Beispiel beim ersten Durchlauf, dass ich vielleicht genauer steuern könnte, welche Auswirkungen eines der ersten Mysterien des Spiels (der Unfall) hatte bzw. was genau dabei passiert ist – bislang ist es mir aber nicht gelungen, eine alternative Darstellung des Vorfalls zu bekommen.

Für mich hingegen war der psychologische Aspekt des Spiels ausschlaggebend für einen Kauf. Zu dem Zeitpunkt, als ich mir TLC kaufte, machte ich gerade eine persönlich schwierige Phase durch und nutzte das Spiel dazu, mir ein einfaches psychologisches Profil zu erstellen (ja, ein solches bekommt man am Ende der Handlung als Lohn der Mühen überreicht). Natürlich war mir klar, dass ein solches nie völlig akkurat sein könnte – immerhin handelt es sich hier immerhin um ein Spiel, nicht um ausgefeilte psychologische Software –, aber ich muss schon sagen, dass das Profil zutraf (wobei ich natürlich auch sagen muss, dass ich als Betroffener dieses wohl nicht selbst interpretieren hätte sollen – aber gut, wie gesagt, es war ein Spiel). Umso stolzer war ich dann, als ich TLC mit einigem Abstand nochmals ehrlich spielte und ein deutlich positiveres Resultat in Händen halten durfte.

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Natürlich war dieser Teil des Spiels weniger jener, den man mit Freunden teilte – und so reduzierten wir uns in meinem Freundeskreis eher darauf, unterschiedliche Erlebnisse und Interpretationen im Film auszutauschen. Mit ein wenig Abstand muss ich allerdings leider sagen, dass der Film nicht gerade ein Meisterwerk war und vor allem beim wiederholten Spielen eher für Langweile sorgte. Klar, in dem Alter konnte der leichte Touch von Basic Instinct und latenter Erotik noch irgendwie die Spannung halten, aber mit ein paar Jährchen Reife sieht das ein wenig anders aus. Aber ist das nicht bei den meisten Spielen so, dass sie im Kopf deutlich besser altern als in der Realität?

Damit sind wir bei der Frage, warum TLC ein Spiel ist, das ich vermisse. Weil es der einzige„reine“ interaktiven Film war, bei denen ich tatsächlich das Ende sehen wollte; weil das Konzept, ein Haus während der Handlung erkunden zu können und so Hintergrundwissen zu bekommen, interessant war. Aber vor allem, weil mich die Idee, Psychologie mit Spiel zu verbinden, sehr fasziniert hat und dieses Konzept nicht nur gut umgesetzt wurde, sondern auch danach nie wieder (zumindest meines Wissens) so angewandt wurde. Und deshalb freue ich mich jetzt schon auf die iPad-Version. Zumindest, um herauszufinden, was das Spiel nach all den Jahren jetzt über mich zu sagen weiß …

Florian Scherz

Bereits früh entwickelte Florian zwei große Leidenschaften: Videospiele und Theater. Ersteres brachte ihn zu einem Informatikstudium und zu Jobs bei consol.MEDIA und Cliffhanger Productions; zweiteres lässt ihn heute (unter anderem) als Schauspieler, Regisseur, Komponist und Lichtdesigner arbeiten. Wenn er gerade keine Musicals inszeniert, spielt oder schreibt, vermisst er auf Shock2 Videospiele von anno dazumal in seiner Blog-Reihe "Spiele, die ich vermisse".

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