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Spiele, die ich vermisse #61: Alter Ego

Was würdet ihr tun, wenn ihr euer Leben abspeichern und später erneut laden könntet? Würdet ihr verrückte Dinge tun (mit der Gewissheit, dass es ein „zurück“ gibt)? Würdet ihr Entscheidungen rückgängig machen, die ihr heute bereut? Oder würdet ihr euer Leben so weiterleben, wie es immer war? Fragen wie diese stelle ich mir so ungefähr mein halbes Leben lang, aber in den letzten Jahren (irgendwann wird man dann halt doch erwachsen) doch vermehrt – welche Chancen habe ich verpasst? Welche werde ich nicht mehr (oder nur noch schwer) nachholen können? Was machen wohl jene Freunde, deren Lebensweg sie irgendwann weit weg von meinem geführt hat? In Stimmungen wie diesen hilft kein Videospiel (wohl eher Zeit mit der Freundin und ein wenig Musik), aber sollte man danach noch immer „Was wäre wenn“ spielen wollen, gibt es eine interessante spielerische Möglichkeit, ein zweites Leben zu führen. Und damit meine ich keine MMOs oder gar die Sims, sondern ein viel älteres Spiel namens Alter Ego.

Vielen von euch wird Alter Ego (ich spreche hier übrigens nicht vom Adventure-Spiel von 2010) vielleicht gar nichts sagen, denn auch wenn es mittlerweile über 25 Jahre existiert, ist es kein Spiel, das jeder kennt. Also: Alter Ego ist eine Lebenssimulation. Und zwar nicht in Die Sims-Manier, wo man als quasi als Hand von außen in das Leben seiner virtuellen Figuren eingreift, sondern eher in einer Mischung aus Brettspiel und Rollenspiel, denn man schlüpft in die Haut seiner Figur und ist ab diesem Zeitpunkt für seine (und nur noch seine) Entscheidungen verantwortlich.

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Das erklärt noch immer nicht, wie man das Spiel spielt, oder? Gut: In Alter Ego durchlauft ihr sieben Phasen eures Lebens. Gleich nach eurer Geburt (die tatsächlich Teil des Spiels ist) seid ihr ein Baby/Kleinkind, werdet zum Kind, zum Jugendlichen, danach kommt die Studentenzeit, zwei Phasen des Erwachsenenlebens und zuletzt das hohe Alter. Ihr seht schon: Kaum ein Spiel kann so sehr von sich behaupten, einen Charakter so sehr „von der Wiege bis zur Bahre“ zu begleiten. Dennoch dauert eine Partie nicht übermäßig lange. Jede Phase besteht aus einem Spielbrett, das aus vielen verschiedenen Symbolen besteht. Hinter jedem von ihnen verstecken sich diverse Ereignisse, die euer Leben für immer prägen werden. Gespielt werden diese in Multiple Choice-Manier: Ihr bekommt eine Erklärung der Situation und entscheidet, wie ihr euch verhalten wollt. Als Baby mag das noch recht einfach sein: Ihr hört zum Beispiel die Eltern außerhalb des Zimmers und seid wach. Was tut ihr? In welcher Stimmung seid ihr? Daraus ergeben sich interessante Aktionen, die zum Teil auch Auswirkungen auf eure Charakterwerte haben (und andererseits auch von diesen abhängen). Auch hier ein Beispiel: Wenn ihr euch in der Schulzeit gegen eure Freunde entscheidet (aus welchem Grund auch immer) werden eure sozialen Werte fallen, weil ihr ausgegrenzt werdet. Allerdings ist – und hier ist Alter Ego ein wenig wie das richtige Leben – oft nicht offensichtlich, welche Auswirkungen eure Entscheidungen haben werden.

Euren Fortschritt nehmt ihr natürlich in spätere Lebensphasen mit – und damit steigen auch eure Möglichkeiten. Ihr könnt Beziehungen begründen, aufs College gehen, euch einen Job suchen, später natürlich auch Kinder bekommen. Diese Möglichkeiten finden sich außerhalb des normalen Spielbretts und erlauben euch so, größeren Einfluss auf euer Leben zu haben. Auch hier bewegt sich allerdings alles auf blankem Text-Level, der die Vorkommnisse bisweilen eher launig kommentiert und darstellt. Hinter den Texten steht ein studierter Psychologe, nämlich Peter J. Favaro, der auch das gesamte Spiel designed hat. Übrigens gibt es gleich zwei Versionen des Spiels – eine für Frauen und eine für Männer. Zweitere hat sich für die Statistiker unter euch wesentlich besser verkauft. Ursprünglich erschien das Spiel für C64, PC und Apple II, wer es lieber moderner hat, spielt Alter Ego auf iOS (leider momentan nicht im deutschsprachigen Raum erhältlich), Android oder gleich im Browser. Allen Versionen ist gemeinsam, dass sie grafisch noch immer an 1986 erinnern – gut für den Retro-Charme, aber nur für Fans von Retro-Titeln.

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Auch sonst merkt man dem Spiel manchmal seine alten Wurzeln an – und sei es nur, weil „große Entscheidungen“, wie zum Beispiel „lebenslange Freundschaften“, die sich aus dem Text ergeben, keine Langzeitauswirkungen haben. Man begegnet ihnen niemals wieder. Nur Beziehungen, Kinder, etc. haben natürlich weitere Auswirkungen (aber auch hier nicht so umfassend, wie es heute mit mehr Speicher möglich wäre). Aber das sind kleine Minuspunkte für ein dennoch witziges, interessantes und auch informatives Spielerlebnis – es ist doch eine spannende Erfahrung, sich selbst (oder eben nicht sich selbst) zu spielen und dann eine Analyse (soweit man sie ernst nehmen kann) seines Lebens herauszubekommen. Außerdem ist das Spiel durchaus mutig, denn auch sexuelle Themen werden (natürlich) thematisiert. Alter Ego weist aber vorher auf solche Inhalte hin.

Auch wenn Alter Ego genau in meine C64-Zeit hineinfallen würde, habe ich das Spiel erst sehr viel später entdeckt – irgendwann Ende der 90er, in einer meiner AbandonWare-Phase. Hinter „AbandonWare“ (für alle, die das nicht wissen) verbirgt sich eine rechtliche Grauzone: Es handelt sich um Spiele, die nicht mehr aktiv von ihren Publishern unterstützt oder vertrieben werden (wenn es sie überhaupt noch gibt). Technisch gesehen sind sie also noch Copyright geschützt, aber gleichzeitig richtet man (zumindest ist das das Argument der Befürworter, unter denen sich auch etliche Entwickler befinden) keinen wirtschaftlichen Schaden an. Das Konzept funktioniert, solange die Rechteinhaber keine Copyright-Ansprüche stellen (gut geführte Archive bieten Rechteinhabern auch an, Downloads zu entfernen und stattdessen Links zu eventuellen Kaufmöglichkeiten zu posten).

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Gut, aber zurück zu Alter Ego: Ich weiß nicht mehr genau, warum mich das Spiel angesprochen hat – vermutlich hat mich die Idee einer Lebenssimulation angesprochen. Vielleicht hat es mich auch einfach an das „Spiel des Lebens“ erinnert – nur in einer ausgefeilten Solospielervariante. Tatsache ist: Das Spiel landete auf meiner Festplatte und war eines der wenigen Spiele, die ich immer und immer wieder startete. Eine Partie dauert ja, wie erwähnt, nicht besonders lange, und es ist interessant, die Entwicklung einer Figur von jung bis alt mit zu verfolgen. Dazu kommt, dass ich das Spiel regelmäßig an meine Selbstwahrnehmung – oder die von anderen – anpassen konnte. Einmal eine Partie als mein 17jähriges selbst, dann wieder mit mehr Selbstbewusstsein – oder wie würde ich mich als Frau machen? Und wie würden sich Schulkollegen spielen? Für mich – der ja auch regelmäßig als Schauspieler unterwegs ist – eine interessante Einfühlübung in verschiedene Charaktere.

Das heißt nicht, dass das Spielprinzip für mich fehlerfrei ist. Zum einen ist es eine interessante Erfahrung, aber zum anderen ist der Wiederspielwert – zumindest gleich darauf – nicht unbedingt gegeben. Man spielt eine Partie, und dann greift man den Titel für ein Jahr oder mehr nicht mehr an. Und selbst dann spielt man nicht alle Partien zu Ende, sondern lässt die Runde irgendwann verstauben (und das, obwohl die Partien erst mit Kindheit oder Jugend richtig interessant werden – als Baby sind die Optionen doch ein wenig eingeschränkt, später werden die Entscheidungen weitreichender und damit interessanter. Die Angst, einen Fehler zu machen, wächst damit allerdings auch schon – denn schon im Kinderalter kann eine schlechte Wahl zu einem raschen Tod (und damit natürlich Game Over) führen).

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Das führt auch wieder zur Frage: Warum vermisse ich Alter Ego? Vor allem, weil es ein ungewöhnliches Spiel ist, mit einem Spielprinzip, das ich so nach all den Jahren nicht wieder gefunden hätte. Wie gesagt, manche ziehen einen Vergleich mit die Sims, aber das sehe ich anders – dort denkt eine KI mit, hier nur der Spieler und seine Statistiken. Hier geht es auch nichts ums Hausbauen, hier geht es um Persönlichkeitsentwicklung. Alter Ego zeigt deutlich, dass der Entwickler sich mit Psychologie auskannte und schafft es, Konsequenzen unserer Handlungen zu zeigen – ohne dabei zu trocken oder unpassend zu werden. Bis heute werfe ich das Spiel manchmal an – und sei es nur, um mich in den ersten Phasen des Spiels an die einfachen Zeiten von damals zu erinnern. Oder daran, dass sie gar nicht so einfach waren, wie ich mich glaube zu erinnern.

Falls ihr es ausprobieren wollt: Die Browser-Version findet ihr hier: http://www.playalterego.com/alterego.

Florian Scherz

Bereits früh entwickelte Florian zwei große Leidenschaften: Videospiele und Theater. Ersteres brachte ihn zu einem Informatikstudium und zu Jobs bei consol.MEDIA und Cliffhanger Productions; zweiteres lässt ihn heute (unter anderem) als Schauspieler, Regisseur, Komponist und Lichtdesigner arbeiten. Wenn er gerade keine Musicals inszeniert, spielt oder schreibt, vermisst er auf Shock2 Videospiele von anno dazumal in seiner Blog-Reihe "Spiele, die ich vermisse".

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