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Spiele, die ich vermisse #107 (Halloween-Special): The Lost Crown – A Ghost-Hunting Adventure

Happy Halloween (auch, wenn es wohl eigentlich schon vorbei sein wird, wenn ihr diesen Eintrag lest)! Zum Fest der Kürbisse und der Schauergestalten (ganz zu schweigen der herumziehenden Kinder und anderer Süßigkeiten-Jäger) tauchen allerorts Listen der gruseligsten Spiele auf. Das hat auch mich nachdenken lassen: Wann habe ich mich das letzte Mal so richtig gegruselt? Meine Antwort darauf würde man wohl auf kaum einer der Listen finden – und dennoch (oder trotzdem) vermisse ich das Spiel dahinter bis heute. Sein Name? The Lost Crown – A Ghost-hunting Adventure.

England: Nigel Danvers musste London fluchtartig verlassen, da er seinem Arbeitsgeber mehrere Dokumente entwendet hat, die unter anderem beweisen, dass dieser an paranormalen Experimenten beteiligt war. Seine Flucht führt in nach Saxton, ein Dörfchen in den Fens in Ostengland. Bald stellt sich allerdings heraus, dass sein ehemaliger Brötchengeber bzw. die Agenten, die dieser auf Nigel angesetzt hat, sein geringstes Problem ist: Saxton ist ein Ort voller mysteriöser Geheimnisse, voller Geister und Mythen. Etliche davon drehen sich um eine legendäre angelsächsische Krone, die einst einem König gehört haben soll und nun Schatzjäger aus aller Welt anlockt; viele von ihnen fanden allerdings ein blutiges, oft unerklärliches Ende. Gemeinsam mit der Psychologiestudentin Lucy Reubans untersucht er – wenngleich nicht ganz freiwillig – die zahlreichen Mysterien von Saxton und stößt dabei auf allerhand paranormale Phänomene – denn nicht alle Menschen, die er trifft, sind noch am Leben, und nicht alle Geister, denen er begegnet, sind ihm wohlgesonnen. Ganz zu schweigen davon, dass eine alte, dunkle Macht scheinbar jenen an den Kragen will, die die Krone suchen …

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Das sind wohlgemerkt nur die ersten Ansätze der Story – ich will aber gar nicht anfangen zu spoilern, da man die Geschichte von The Lost Crown erleben muss und die Ungewissheit, was hier vor sich geht, einen großen Reiz der Story ausmacht. Denn Designer Jonathan Boakes (der mit den Dark Falls-Spielen schon zuvor Erfahrung mit dem Horror-Adventure-Genre gesammelt hat, in denen auch Nigel schon einen ersten Auftritt hatte), schafft es, eine unglaublich dichte Atmosphäre auf den Monitor zu zaubern. Das Städtchen Saxon selbst mag ja noch einen ruhigen Charme haben, aber kaum verlässt man die bewohnten Bereiche und betritt abgelegene, menschenverlassene Orte, stehen einem die Haare zu Berge. Einen großen Anteil daran hat die Soundkulisse, die mit Geisterstimmen und kleinen Soundeffekten dafür sorgt, dass man ständig darauf wartet, dass etwas passiert. Und genau das ist es, was furchtbar an den Nerven zehrt.

Dazu kommt, dass Boakes eine lebendige Stadt voller Mysterien erschaffen hat. Anders als bei Dark Falls setzt er auf ein großes Personeninventar aus Lebenden und Toten (wobei die Grenze, wie gesagt, bisweilen schwankt und nicht immer klar ist, ob alle Einwohner noch am Leben sind), modelliert Saxton anhand echter Städte in Cornwall (von denen auch die verwendeten Fotos stammen) und erschafft allerhand Geister mit eigenen Persönlichkeiten und Geschichten, wobei er darauf achtet, dass sie nicht einfach nur Episoden in einem Gruselspiel sind, sondern zum großen Geheimnis rund um die verlorene Krone gehören. Auch um die Geisterjagd macht er sich einige Gedanken und schließt sich einem Kreis von Geisterjägern an. Etliche Resultate davon finden sich im Spiel wieder. Ist es ein Wunder, dass es quasi in jedem Haus in Saxton spukt? (Und ja, auch in dem Haus, das ihr eure Bleibe nennt …)

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Es ist auch der Gruselfaktor, der The Lost Crown zu etwas besonderem macht – denn würde man diesen weglassen, würde man ein etwa mittelmäßiges Indie-Point’n’Click-Adventure mit veralteter Technik dahinter entdecken. Denn tatsächlich würde der Titel niemals einen Schönheitswettbewerb gewinnen; zwar gefallen die Hintergründe, die aus nachbearbeiteten Fotos basieren (und mit ihrem Schwarz/Weiß-Look mit Farbflecken eine ganz eigene Ästhetik haben und zum Teil für Meinungen sorgen, dass das Spiel nur ein Traum ist), aber bisweilen sind insbesondere die Animationen für unfreiwillige Lacher gut – Nigels Moonwalk-Vorwärts, bei dem die Gehanimation nur wenig mit der Geschwindigkeit, mit der er über den Bildschirm wandert, zu tun hat, kann gerade in ruhigeren Momenten für Lacher sorgen und auch die polygonarmen Modelle und die mangelnde Unterstützung für Widescreen-Monitore, durch die die Protagonisten seltsam pummelig werden, sind nicht gerade atmosphärisch. Aber spätestens wenn eine Geisterstimme mit einem leisen, geflüsterten „hier“ darauf hinweist, dass wir unsere Geisterjägerausrüstung (nein, keine Protonenpacks, sondern Camcorder, Fotoapparat und EMP-Messgerät) einsetzen können, um Phänomene aufzuzeichnen, halten wir wieder den Atem an. Wenn wir durch dunkle Gemäuer, Gräber und Höhlen schreiten, in denen wir nur sehen, was uns der Restlichtverstärker anzeigt, ist der Puls wieder hoch und die Angst vor dem, was verborgen ist, umso größer. Denn wie so oft gilt: Was man nicht sieht, ist umso gruseliger – oder wird es erst dann richtig schrecklich, wenn wir uns einen Schritt vorwagen und das Grauen, das wir schon hören, ins Licht holen? Was ist, wenn es furchtbarer ist, als das, was unser Kopf sich vorstellt? Es ist dieser ständige Kampf zwischen „ich möchte wissen, wie es weiter geht“ und „was lauert im Dunkeln?“, der uns durch das (übrigens recht lange) Adventure durchführt und uns die Durchhänger (das Spiel ist bisweilen ZU offen und auch, wenn man weiß, was man an einem Tag machen muss, kann es sein, dass man irgendeine Kleinigkeit übersehen hat und noch nicht dorthin gelangt) überwinden lässt. Fehlt einfach noch die richtige Aufzeichnung einer Geisterstimme? Ein Foto? Oder wurde ein Gespräch nicht geführt? Das Spiel lässt euch eben auch metaphorisch im Dunkeln tappen.

Wer mich ein wenig kennt, weiß, dass ich ein schreckhafter Mensch bin und mit einem nicht klar komme: der ständigen Erwartung, dass gleich etwas passiert; wie ihr bereits gelesen habt, ist The Lost Crown genau ein solches Spiel. Wie zum Geier ist dann The Lost Crown jemals in meinem Rechner gelandet, fragt ihr? Tja, unter normalen Umständen wäre es das wohl auch nicht, aber da wir hier von einem recht neuen Spiel sprechen (Frühjahr 2008 – ja, auch Spiele jungen Alters kann man vermissen) und ich damals schon in der Gamers-Redaktion saß und meinen Ruf als Adventure-Experte aufbaute, reichte ein Blick von Chefredakteur Thomas auf das Genre „Adventure“, um das Spiel auf meinen Schreibtisch wandern zu lassen.

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Was folgte, war eine haarsträubende Woche, bei dem mein Puls zum Teil ins unerträgliche stieg, sodass ich von Zeit zu Zeit tatsächlich einfach aufhören musste, weiter zu spielen und mir schwor, ich könnte nicht weitermachen. Doch nur Stunden später war das Spiel wieder gestartet und es ging weiter damit, die Geheimnisse von Saxton zu studieren. Das ging soweit, dass ich das Spiel sogar zuhause weiter spielte, weil mir die Ereignisse keine Ruhe ließen, und auch dort immer wieder Pausen einlegen musste, um meinen Puls unter Kontrolle zu bringen. Und selbst wenn ich nicht spielte, erwartete ich irgendwie in jedem Schatten dunkle Gestalten, sodass ich oft darüber nachdachte, aufzugeben. Doch auch hier riefen mich nicht nur die Pflicht, sondern auch die Geister der Kleinstadt zurück. Erst als ich das Ende gesehen hatte, war ich wieder frei und konnte durchatmen. Ich hatte „überlebt“. Und dabei Spaß gehabt – trotz all der Angst. Ein Gefühl, wie beim Verlassen einer Hochschaubahn.

Vielleicht ist es auch dieses Gefühl des Triumpfes, weswegen ich The Lost Crown nicht vergessen kann. Bis heute denke ich über das Spiel nach und warte seit damals auf das Sequel, auch wenn ich weiß, dass es wieder Angstzustände bei mir auslösen wird. Ich fühle mich selten wie ein Adrenalin-Junkie, aber The Lost Crown hat es geschafft, mir Angst zu machen und mich dennoch darauf zu freuen, mir die nächste Dosis dieser Emotion zu holen. Ja, ich habe das Spiel nur einmal durchgespielt (und mache heute noch einen Bogen um die Packung, fast, als hätte ich Angst, dass ich es nochmal installieren könnte), aber dennoch checke ich regelmäßig die Webseite, um zu erfahren, wann die Geschichte endlich weitergeht (das Sequel ist schon länger angekündigt, jetzt soll es bald soweit sein). Das ist der Beweis, dass es nicht immer High-Tech braucht, um ein tolles Spielerlebnis zu bieten, sondern dass es manchmal auch reicht, auf Storytelling, einen eigenen Stil und tolle Atmosphäre zu setzen, um ein einzigartiges, Spielgefühl zu bekommen, das Ecken und Kanten hat. Und in diesem Fall eine gehörige Portion Gänsehaut.

Florian Scherz

Bereits früh entwickelte Florian zwei große Leidenschaften: Videospiele und Theater. Ersteres brachte ihn zu einem Informatikstudium und zu Jobs bei consol.MEDIA und Cliffhanger Productions; zweiteres lässt ihn heute (unter anderem) als Schauspieler, Regisseur, Komponist und Lichtdesigner arbeiten. Wenn er gerade keine Musicals inszeniert, spielt oder schreibt, vermisst er auf Shock2 Videospiele von anno dazumal in seiner Blog-Reihe "Spiele, die ich vermisse".

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