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Review: Tell Me Why

Psychologisches Kammerspiel

Wissen wir sicher, was in der Vergangenheit passiert ist, oder halten wir einfach an unserer persönlichen Version der Erinnerung fest, auch wenn diese vielleicht nicht stimmt? Dontnod Entertainment wagt sich mit Tell Me Why an einige spannende Themen heran und erschafft so „nebenbei“ interessante Charaktere und eine Story voller Fragen, die wir nur nach und nach ergründen können. Wir haben mittlerweile alle drei Episoden durchgespielt.

Irgendwo in Alaska

Vor zehn Jahren brach die Welt der Ronan-Zwillinge zusammen: Nach einem tragischen Vorfall, bei dem ihre Mutter Mary-Anne ein gewaltsames Ende fand, haben sie sich nicht mehr gesehen. Eines der Kinder wurde in eine Besserungsanstalt gesteckt und wurde in dieser Zeit vom Mädchen zu jenem jungen Mann, den wir zu Beginn der Geschichte als Tyler kennenlernen; seine Schwester Alyson hingegen blieb in Delos Crossing und wurde vom lokalen Polizeichef aufgezogen. Doch nun ist die Zeit der Trennung vorbei. Der Anlass für das Wiedersehen? Alyson und Tyler planen, ihr altes Haus zu verkaufen und einen Neuanfang zu wagen. Doch dafür müssen sie sich zuerst der Vergangenheit stellen – und dabei nicht nur aufarbeiten, zu welchen Menschen sie mittlerweile geworden sind und ob sie die Trennung unwideruflich auseinandergebracht hat, sondern auch herausfinden, wer ihre Mutter wirklich war und wie es zu jener schicksalhaften Nacht kam.

Story …

Weiter wollen wir auf die Geschichte des Spiels gar nicht eingehen – in Tell Me Why ist der Weg das Ziel und die Story der Dreh- und Angelpunkt. Halten wir einfach fest: Im Verlauf der drei jeweils etwa vier Stunden umfassenden Episoden gibt es eine Menge Entwicklungen und durchaus spannende Wendungen, die all jene Spieler, die solche Storys zu schätzen wissen, fesseln werden und auch zum Diskutieren anregen sollen – nicht ganz grundlos erschienen die einzelnen Episoden im Wochenabstand. Für diese Qualität sorgen auch einige gelungene Charaktere – vor allem Alyson und Tyler sind gut geschriebene, komplexe Figuren, denen wir sowohl beim Smalltalk als auch bei existenziellen Gesprächen gerne zugehört haben. So nebenbei umschifft man mit Tyler auch die gefährliche Klippe der Stereotypisierung: Es wäre zu leicht, Tyler einfach „nur“ als Transmann zu schreiben, doch die Autoren erschaffen hier einen Charakter, der als vielschichtiger Mensch funktioniert – seine sexuelle Identität ist ein Teil der Figur, ohne sich aufgesetzt anzufühlen. Hier hat sich die Zusammenarbeit mit GLAAD (Gay and Lesbian Alliance against Defamation) durchaus ausgezahlt.

Das gilt allerdings nicht für alle Figuren, denn auch wenn die Nebencharaktere manchmal interessante Ansätze haben, bekommen sie immer wieder zu wenig Raum, um sich wirklich zu entfalten. Hier ist Tell Me Why manchmal einfach zu schnell und gibt ihnen zu wenig Zeit, ihre Entwicklungen und Entscheidungen gut zu erklären. Das ist allerdings generell ein Problem des Spiels – das Pacing ist gleich auf mehreren Ebenen nicht hundertprozentig ausgereift. Aus Makro-Sicht ist schon das Tempo der Episoden ungleich: Der erste Teil muss viel Exposition leisten, also die Figuren und das Mysterium vorstellen, bekommt aber gegen Ende durchaus Tempo; die zweite Episode als klassischer Mittelteil ist in großen Teilen recht langsam, bevor sich die dritte zum großen Finale steigert. Zoomt man ein wenig weiter ins Detail, gibt es aber auch innerhalb der Episoden ein paar Hänger, bei denen sich die Handlung zu lang mit Belanglosigkeiten aufhält, die zwar oft der Charakterisierung und/oder Atmosphäre dienen, aber dann doch ein wenig zu langatmig werden,

… vor Gameplay

Neben all der Story gibt es natürlich auch Gameplay, das sich aber vor allem in den Dienst der Geschichte stellt und nicht in den Vordergrund drängt. Wer Spiele nicht wegen der Handlung, sondern wegen der Spielmechaniken spielt, ist hier völlig falsch. Ja, wir erkunden mit Tyler oder Alyson die diversen Locations in Delos Crossing aus der Third-Person-Perspektive. Dabei handelt es sich aber wirklich um Herumgehen – weder Springen noch eine Option zum Laufen sind im Angebot. Action sieht anders aus. Dafür interagieren wir mit allerhand interessanten Dingen, lesen unzählige Texte, sammeln Items ein oder führen Gespräche.

Dass das Gameplay dann doch mehr als ein Anhängsel ist, um die Geschichte zu erzählen, liegt daran, dass unsere Entscheidungen die Handlung beeinflussen. Wie werden Alyson und Tyler am Ende der Story aufeinander zu sprechen sein? Wie wird ihre Beziehung zu den Einwohnern von Delos Crossing schlussendlich aussehen? All das könnt ihr mit euren Antworten und Reaktionen steuern, auch wenn der Einfluss auf die Grundhandlung eher gering ist. Viele Spiele ähnlicher Natur stellen euch dabei vor moralische Dilemmas und es bleibt lange unklar, was die richtige oder falsche Entscheidung ist. Auch in Tell Me Why kann es eine Weile dauern, bis eure Taten klare Konsequenzen zeigen, aber dennoch gibt es oft gleich nach eurer Wahl ein kleines Symbol, das euch darauf hinweist, ob eure Entscheidung die Zwillinge zu- oder auseinander gebracht hat. Das mildert die Angst davor, eine „falsche“ Wahl Stunden später zu bereuen, nimmt aber gleichzeitig die diesbezügliche Spannung raus. Am Ende der Episode gibt es außerdem eine Zusammenfassung, wie eure Wahl andere Personen beeinflusst hat und wie die restliche Spielerschaft entschieden hat. Wer seine Entscheidung revidieren will, kann ein Kapitel herauspicken und nochmal spielen. So kann man auch Collectibles einsammeln, die man vergessen hat.

Goblins und Geschwister

Zwei Aspekte des Gameplays wollen wir noch herausstreichen: Erstens entdecken Alyson und Tyler nach kurzer Zeit ihre alte „Verbindung“ wieder – eine Art innere Stimme, durch die sie auch getrennt voneinander oder ungehört von anderen miteinander kommunizieren können. Viel wichtiger an dieser Entwicklung ist allerdings, dass ihre Verbindung auch Erinnerungen wiedererweckt, die ihre Vergangenheit zeigen und allerhand Erkenntnisse über die damaligen Ereignisse liefern. Gleichzeitig – und hier sind wir bei der Frage im ersten Absatz über die Wahrhaftigkeit unserer Erinnerungen – sind sich die beiden nicht immer einig, wie die Vergangenheit nun wirklich war. Ab und an unterscheiden sich ihre Erinnerungen, und es liegt am Spieler, sich für eine der beiden zu entscheiden. Auch das verändert die Fortführung der Story und die Beziehung der Charaktere zueinander. Diese Mechanik rund um Erinnerungen ist interessant, wird aber manchmal zu inflationär und als Deus Ex Machina genutzt. Auch das Ende wird aufgrund der Konsequenzen dieser Mechanik nicht jedem Wahrheitssucher gefallen – hier wollen wir aber definitiv nicht spoilern.

Zweitens gibt es noch einige echte Puzzles im Spiel. Diese haben oft mit dem „Book of Goblins“ zu tun, einem von der Mutter der Zwillinge geschriebenen Geschichtenbuch, in dessen zahlreichen Storys sich die Antwort auf so manche Rätselfrage versteckt. Das ist einerseits atmosphärisch passend, andererseits ist das Buch recht umfangreich und wenn man die Hinweise auf die passende Geschichte nicht richtig deutet, kann man sich auf der Suche nach der Lösung ein wenig zu sehr in den Seiten verlieren. Eine Hinweisjagd per Computer, bei der neue Erkenntnisse weitere Erkundungsansätze ergeben, erinnert hingegen ein wenig an Her Story, zieht sich aber dann nach einem atmosphärisch packenden Einstieg doch ein wenig zu lang. Auch hier zeigt sich: Tell Me Why findet bisweilen einfach nicht das richtige Maß, das es zur richtigen Brillanz führen würde.

Technische Aspekte

Tell Me Why setzt wie viele andere Spiele auf die Unreal Engine. Das sorgt für eine gewisse grafische Qualität: Die Personen sind ausreichend realistisch dargestellt, um zu ihnen eine Beziehung aufzubauen, auch wenn kein Fotorealismus erreicht wird und auch die Gesichter nicht immer die Emotionen rüberbringen, die die Story eigentlich brauchen würde. Die einzelnen Locations sind meist voller liebevoller Details, aber auch nicht übermäßig groß. Vor allem am PC waren darüber hinaus ein paar Grafikfehler zu bemerken – Texturen, die erst kurz nach dem Szenenwechsel von Matsch zu besserer Auflösung sprangen, oder auch weiße Linien an Polygongrenzen – auf der Xbox One blieben wir hingegen von solchen Fehlern Großteils verschont. Der Hintergrundsound ist atmosphärisch, aber eher minimalistisch, während die noch ausschließlich englische Synchro (die deutsche wird „dank“ Corona nachgereicht und es gibt momentan nur deutsche Untertitel) den Charakteren gelungen Leben einhaucht. Eine Geschmacksfrage bleibt hingegen die optimale Steuerungsmethode: Per Controller fühlte sich vor allem das Auswählen von Hotsports per rechtem Analogstick bisweilen etwas hakelig an – hier hatte die Maus am PC die Nase vorn. Andererseits gelingt die Steuerung der Figur per Analogstick besser als per WASD. Im Endeffekt erfüllen beide Eingabemöglichkeiten ihren Zweck, Raum für Verbesserung gäbe es allerdings bei beiden noch.

Fazit

Wertung - 8

8

Nichts für Story-Muffel

Tell Me Why ist ein Spiel, in dem das eigentliche Gameplay stark hinter die Story zurückgedrängt wird. Wer kein Interesse daran hat, längeren Dialogen zu lauschen, in denen sich eure Interaktion auf das Auswählen weiterer Themen und eventuell das Bewegen der Charaktere oder der Kamera beschränkt, ist hier ebenso falsch wie jemand, der schnelle Action bevorzugt. Tell Me Why ist eine Charakterstudie, ein Familiendrama (das nicht völlig umsonst ein paar Trigger-Warnungen vor das Spiel stellt, auch wenn man trotzdem eher behutsam denn sensationslüstern mit der Thematik umgeht); es ist auch mehr interaktiver Film denn „normales“ Spiel. Ja, gegenüber einer Umsetzung in einem anderen Medium profitiert es dann doch davon, dass wir abwechselnd in die Haut der beiden Protagonisten schlüpfen können und darüber hinaus die Spielwelt nach Hinweisen abgrasen können, die auch abseits der Story noch tiefer in die Spielwelt hineinführen und so mache Hintergrundinfo liefern. Dennoch ist auch auf der Storyseite nicht alles eitel Wonne: Das Pacing ist teilweise unrund, und tendiert etwas zu sehr zur Langsamkeit, gibt aber dennoch so mancher Entwicklung zu wenig Raum. Trotzdem bleibt Tell Me Why eine interessante spielerische Erfahrung, wie man sie nicht oft im Videospielbereich erleben kann – ein emotionales, packendes Kammerspiel, das trotz der Entscheidungspfade aber vielleicht weniger zu einem unmittelbaren zweiten Durchlauf einlädt.

Genre: Adventure
Entwickler: Dontnot Entertainment
System: Xbox One/PC
Erscheint: erhältlich
Preis: ca. 30 Euro bzw via GamePass

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Florian Scherz

Bereits früh entwickelte Florian zwei große Leidenschaften: Videospiele und Theater. Ersteres brachte ihn zu einem Informatikstudium und zu Jobs bei consol.MEDIA und Cliffhanger Productions; zweiteres lässt ihn heute (unter anderem) als Schauspieler, Regisseur, Komponist und Lichtdesigner arbeiten. Wenn er gerade keine Musicals inszeniert, spielt oder schreibt, vermisst er auf Shock2 Videospiele von anno dazumal in seiner Blog-Reihe "Spiele, die ich vermisse".

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